Geschichte und Mythos
Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft
Lucian Boia, Annemarie Weber
Mein Forschungsfeld ist die rumänische Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Mich interessiert das Zusammenspiel des auf allen Ebenen sich ständig erneuernden historischen Diskurses – in der Geschichtsschreibung, den Lehrbüchern, der Literatur, der politischen Propaganda – mit der Entwicklung dieser Gesellschaft und ihren diversen Ideologien und Projekten. Nicht alle Faktenverformungen und vereinnahmungen werde ich Revue passieren lassen, sondern nur jene Teile des historischen Diskurses, die in die nationale Mythologie eingearbeitet wurden und der Gegenwart durch die Vergangenheit Sinn zu geben suchen.
Lucian Boia, geboren in Bukarest am 1. Februar 1944, ist Professor an der Historischen Fakultät der Universität Bukarest. Sein umfangreiches und vielfältiges Werk umfasst zahlreiche in Rumänien und in Frankreich veröffentlichte Titel sowie Übersetzungen ins Englische, Deutsche und in andere Sprachen. Eingehend hat er sich mit der Geschichte der Ideen und des Imaginären beschäftigt und ist sowohl mit Werken zur Theorie der Geschichte (Jocul cu trecutul. Istoria între adevăr şi ficţiune – Das Spiel mit der Vergangenheit. Geschichte zwischen Wahrheit und Fiktion) und des Imaginären (Pentru o istorie a imaginarului – Zur Geschichte des Imaginären) sowie mit konsequenten Untersuchungen zu einem weitgefächerten Register an Mythen (vom außerirdischen Leben und dem Ende der Welt bis zum Kommunismus, Nationalismus und der Demokratie) hervorgetreten. Zudem hat er neue Deutungen zur Geschichte des Westens, Frankreichs und Deutschlands geliefert. Seine Arbeit Istorie şi mit în conştiinţa româneasca (Geschichte und Mythos im rumänischen Bewusstsein) aus dem Jahr 1997 stellte eine Sensation dar und ist seither eine Bezugsgröße für die Neubestimmung der Nationalgeschichte.