Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten
Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud
Dirck Linck, Martin Voehler
Aristoteles hatte die Erregung von Furcht und Mitleid streng begrenzt auf die kathartische Wirkung der Tragödie bezogen: Weder ein Zuviel noch ein Zuwenig an Leid, an Ethos oder an Nähe ist erlaubt, wenn sich die gewünschte Wirkung einstellen soll. Die Katharsis erweist sich als grenzbezogenes Phänomen. Zum Traditionsbruch kommt es im 19. Jahrhundert: Mit seiner medizinischen Deutung radikalisiert Jacob Bernays den Aspekt der „Abfuhr“. Breuer und Freud erweitern die „kathartische Methode“ auf das Spektrum aller Affekte. Nietzsche hingegen weist die aristotelische Deutung als „Missverständnis“ zurück und stellt die tragische Wirkung in den Dienst des gesteigerten Lebens. Mit der von Bernays, Freud und Nietzsche eingeleiteten Revision erfährt der Begriff der Katharsis neue Aufmerksamkeit, insbesondere der konzeptuelle Anspruch auf Reinigung oder Heilung. In den modernen Künsten und Kunsttheorien kommt es zu einer Pluralisierung der Katharsiskonzeptionen. Welche Reinigungs- und Heilungsansprüche werden erhoben? Erfolgt eine Neuvermessung der Grenzen oder werden diese im Zeichen einer Entgrenzung der Künste aufgegeben? Die Beiträge dieses Sammelbands fragen nach der Reichweite der aristotelischen Katharsiskonzeption, im Verständnis affektbewegender Momente in den modernen Künsten.