Kehren: Martin Heidegger und Gotthard Günther
Europäisches Denken zwischen Orient und Okzident
Cai Werntgen
Der deutsch-amerikanische Gehlenschüler, Hegel-Hermeneut, Logiker und Kybernetiker Gotthard Günther (1900-1984) gehört zu den zu Unrecht vergessenen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Günthers unorthodoxe Grenzgänge zwischen Europa und Amerika, Metaphysik und Kybernetik, Logik und Technologie zählen zu den wenigen Episoden wilden Denkens im beschaulichen Archiv der deutschen Nachkriegsphilosophie. Im Zentrum von Günthers Theorie steht die ‚amerikanische Maschinentechnik‘ alias ‚Kybernetik‘, deren Erfindung im Jahre 1943 er als ‚Eintritt Amerikas in die Weltgeschichte‘ deutet. Wie Heidegger spricht auch Günther dabei vom ‚Untergang des Abendlandes‘ und vom ‚Ende der Philosophie‘ – jedoch unter umkehrtem Vorzeichen: Kybernetik und Massenkultur firmieren hier als positive Verheißungen einer dritten amerikanischen Kultur-Epoche nach dem Ende der hochkulturellen Ära. Genau in diesem Kontrast verspricht die Doppellektüre Martin Heidegger und Gotthard Günther neben einer Wiederentdeckung Günthers vor allem eine überraschende Neubelichtung des Heideggerschen Denkweges. Sie öffnet den typologischen Blick auf zwei deutsche ‚Kehren‘ im 20. Jahrhundert: neben die Heideggersche ‚Osterweiterung‘ mit ihrem Rückgang in den ‚orientalischen Ursprung‘ tritt mit Günthers spekulativer Neuentdeckung ‚Amerikas‘ die Gegenkehre einer transatlantischen ‚Westerweiterung‘. Im Lichte dieses neuen Westens im Westen des ersten Westens jedoch erhellt sich nicht nur die viel zitierte Heideggersche Affinität zum ‚Osten‘, sondern steht überhaupt die Legitimität der traditionellen Ost-West-Topographie europäischer Selbstorientierung in Frage: Wie alt ist Alteuropa? Wie viel ‚Orient‘ steckt im alten ‚Okzident‘? Mit diesen Fragen entpuppt sich die Konstellation ›Heidegger-Günther‹ als geophilosophisches Vorspiel jener geostrategischen ‚Amerika-Debatte‘, die Europa seit dem Jahr 2000 im Bann hält.