Kirchliche Historiographie zwischen Wissenschaft und religiöser Sinnstiftung
David Cranz (1723–1777) als Geschichtsschreiber der Erneuerten Brüderunität
Matthias Noller
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts vollzog sich die Autonomisierung der Historie gegenüber biblizistischen Konzeptionen und heilsgeschichtlichen Schemata. Damit war ein Strukturwandel der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung hin zur Verwissenschaftlichung verbunden, der dieser ehemals theologischen Disziplin ein neues Selbstverständnis verlieh. Gleichwohl wurde die kirchliche Historiografie auch weiterhin in den Dienst der Vermittlung von Geschichtsbewusstsein und historisch fundierter Identitätsbildung von Glaubensgemeinschaften gestellt. In diesem Spannungsfeld entstanden die Schriften von David Cranz (1723–1777), einem einflussreichen Theologen, Publizisten und Kirchengeschichtsschreiber der Erneuerten Brüderunität. Die aus dem Pietismus hervorgegangene Freikirche hatte ihr Zentrum im oberlausitzischen Herrnhut. Zu den historiografischen Hauptwerken von Cranz, der lange Zeit als Sekretär Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs tätig war und so Einblick in wichtige Entscheidungen der Kirchenleitung hatte, zählen die Geschichte der Mission der Brüdergemeine in Grönland sowie eine Überblicksdarstellung zur Genese dieser Religionsgemeinschaft. Beide Werke wurden europaweit rezipiert, übersetzt und wiederholt nachgedruckt.
Die auf einer eingehenden Interpretation dieser Schriften basierende Studie erklärt die grundsätzlichen Funktionsmechanismen protestantischer Kirchengeschichtsschreibung zwischen Verwissenschaftlichung und religiöser Sinnstiftung. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Verflechtung von theologischem und geschichtlichem Erkenntnisinteresse. Leben und Werk eines renommierten, bio-bibliografisch bisher weitgehend vernachlässigten evangelischen Gelehrten des Aufklärungszeitalters werden damit erstmals thematisiert und auf breiter Quellenbasis analysiert.