Parlament und Verfassung in den konstitutionellen Verfassungssystemen Europas / Parlamento e Costituzione nei sistemi costituzionali europei ottocenteschi.
Luigi Lacchè, Anna Gianna Manca
Die Untersuchung des historischen Schicksals der konstitutionellen Verfassungen während des „langen“ 19. Jahrhunderts kommt dem Studium der Rolle des Gesetzgebers insofern gleich, als dieser sich auch in konstitutioneller Epoche in seiner Gesetzgebungstätigkeit mehr oder weniger streng an den Verfassungstext zu halten hatte und dazu berufen war, ihn zu achten und zur Durchführung zu bringen. Nichtsdestoweniger wird allgemein die konstitutionelle Epoche als jene betrachtet, in der nicht die Verfassung, sondern das Gesetz den Vorrang hatte, und in diesem Zusammenhang wurde sogar von der „Allmacht“ der Legislative gesprochen.
In den hier versammelten Beiträgen wird so versucht zu klären, welche Rolle das Parlament des konstitutionellen Zeitalters in bezug auf die Verfassung ausüben konnte bzw. in der Tat ausgeübt hat, und zwar bei: 1) Anwendung und Umsetzung der nach gesetzlicher Durchführung verlangenden Bestimmungen der schriftlichen Verfassung; 2) Bewahrung des Geistes und des Wortlauts der Verfassung vor eventuellen Angriffen der Exekutiven; 3) vollständiger oder teilweiser Revision des Verfassungstextes. Die Verflechtung Parlament/Verfassung wird hier also in einer weiteren Perspektive als die der traditionellen Rechtsgeschichte behandelt, und zwar anhand der Untersuchung einzelner bedeutender europäischer Erfahrungen und mit Hilfe der Mittel der vergleichenden Verfassungsgeschichte.
Die sogenannten „konstitutionellen Verfassungen“ waren an sich sicherlich noch weniger als die heute gültigen imstande, auf jede Frage über die konkrete institutionelle Organisation und das alltägliche Funktionieren des Staates und der Gesellschaft im allgemeinen eine Antwort zu geben. In ihrem Text fand zum Teil nicht einmal jene fundamentale Menschenrechtserklärung Platz, die aber schon für die verfassunggebende Versammlung der französischen Revolution unverzichtbare Voraussetzung für jegliche Verfassung gewesen war. Trotz alledem, und obwohl die Verfassungsrechtler und -historiker des 20. Jahrhunderts sehr oft zwischen (nur) programmatischen einerseits und präskriptiven Verfassungen andererseits unterschieden haben, könnten sich mutatis mutandis die Gemeinsamkeiten zwischen den konstitutionellen Verfassungen des „langen“ 19. Jahrhunderts und der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, zumindest in materieller Hinsicht, als größer als bisher angenommen erweisen.