„Schreiben, wie mir’s ums Herz ist“
Lebenswirklichkeit und Verfolgungsschicksal von Anna Hess im Spiegel ihrer Briefe 1937 - 1943
Astrid Gehrig
Mit den rund 160 Briefen, die Anna Hess zwischen 1937 und 1943 an ihre Tochter nach Buenos Aires schrieb, liegen uns persönliche Zeugnisse aus einer Opfergruppe vor, die bislang weitgehendungehört geblieben ist: alte jüdische Menschen, denen die Flucht aus NS-Deutschland nichtgelungen ist. Exemplarisch rekonstruiert die vorliegende Studie den Alltag einer alten jüdischen mitseinen Sorgen und Nöten, aber auch mit seiner Langeweile, Monotonie und Einsamkeit. Die Briefe belegen zudem eindrucksvoll die zunehmende gesellschaftliche Isolation, den Rückzug in die Familie und den jüdischen Bekanntenkreis, die Erfahrung finanzieller Existenznot und die soziale Segregation in „Judenhäusern“ ebenso wie die Versuche, sich unter den neuen Umständen irgendwie zurechtzufinden. Anna Hess war keine Chronistin der Verfolgung, sie schrieb nicht für die Nachwelt und dokumentierte nicht das Geschehene. Vielmehr gibt sie in den Briefen Stimmungen und Befindlichkeiten, Gefühle und Enttäuschungen von sich und anderen Verfolgten wider. Sie schrieb ganz einfach, wie ihr’s „um Herz“ war. So hören wir eine individuelle jüdische Stimme, die mit unvergleichlicher Eindringlichkeit den Alltag einer über 80-jährigen verwitweten Frau schildert, die 1937 von ihren Kindern in Hamburg zurückgelassen wurde. Anna Hess hat den Holocaust nicht überlebt, sie wurde 1943 nach Theresienstadt deportiert. Auch wenn man die Menschen hat vertreiben oder ermorden können, so ist es dem NS-Regime nicht gelungen, jede Spur jüdischen Lebens zu vernichten. Anna Hess’ Geschichte (und die ihrer drei erwachsenen Kinder im Exil und zahlreicher Verwandter und Bekannter) ist in ihren Briefe aufbewahrt – ganz im Gegensatz zu den zahllosen stummen Opfern und ihren Schicksalen.