Selma Meerbaum-Eisinger 1924–1942
Erinnerungen ihrer Schulfreundin
Margit Bartfeld-Feller, Gesine Keller, David Klein, Elisabeth Rosenfelder, Petro Rychlo, Jürgen Serke, Erhard Roy Wiehn
Aus dem Vorwort von Petro Rychlo: „Das Leben ist rot“
Es gibt kein einziges eigenständiges Foto von Selma Meerbaum-Eisinger. Fünf oder sechs Aufnahmen, die sich wie durch ein Wunder erhalten haben, sind Ausschnitte aus Gruppenbildern. Sie haben sich durch Zufall in privaten Archiven gefunden. Waren aber auch diese Archivsammlungen, wie so vieles in jener Zeit, verloren gegangen, so konnten wir uns heute nicht einmal vorstellen, wie Selma Meerbaum-Eisinger ausgesehen hat.
Drei Jugendfreundinnen waren hier zu nennen, denen wir die Erhaltung dieser Fotos und – was noch wichtiger ist – des schmalen poetischen Nachlasses dieser jungen Czernowitzer Dichterin verdanken, die mit 18 Jahren unter schrecklichen Bedingungen in einem nazistischen Arbeitslager in Transnistrien aus dem Leben scheiden sollte. Es geht dabei um ein Album sehnsüchtiger Liebesgedichte, die Selma ihrem Freund Leiser Fichmann gewidmet hatte, den sie in der zionistischen Jugendgruppe „Haschomer Hazair“ in Czernowitz kennenlernte. Else Schachter-Keren, Renee Abramovici-Michaeli und Margit Bartfeld-Feller waren Selmas Klassenkameradinnen – zuerst in einer rumänischen Mädchenschule (Hoffmann-Lyzeum, rumänisch Lyceum Julia Hasdau), später, als Czernowitz 1940 sowjetisch wurde, in einer jüdischen Mittelschule, wo einer ihrer Lieblingslehrer und ihr Klassenleiter Hersch Segal war, der 1976 zum ersten Mal Selmas Gedichte als Privatdruck in einer bescheidenen Auflage von 400 Exemplaren in Israel herausgegeben hatte.
Heutzutage ist Margit Bartfeld-Feller die einzige der drei Freundinnen, die nach einigen Jahrzehnten sibirischer Verbannung seit 1990 in Israel lebt und noch authentische Erinnerungen an Selma vermitteln kann. Desto wertvoller sind diese Zeugnisse über das jüdische Mädchen aus Czernowitz, das in der Zeit triumphierender Nationalismen,bodenlosen Hasses und blinden Rassenwahns auf Deutsch dichtete und in seinen Gedichten das höchste und das schönste menschliche Gefühl – die Liebe – besang.
Margit Bartfeld-Feller, die erst nach der späten Einwanderung nach Israel ihre Texte zu schreiben begann, ist heute eine der wichtigsten Stimmen, welche die Verbrechen des nazistischen und des stalinistischen Regimes als Überlebende anprangert. In der Edition Schoáh & Judaica / Jewish Studies, die von Prof. Erhard Roy Wiehn im Konstanzer Hartung-Gorre Verlag herausgegeben wird, hat sie schon 10 Bände ihrer dokumentarischen Erzählungen publiziert. Diesen Herbst erhielt sie in Wien den ehrenvollen Theodor-Kramer-Literaturpreis, der für das Schreiben im Exil und im Widerstand verliehen wird. Das Buch über Selma Meerbaum-Eisinger, das aus ihren Erinnerungen, Skizzen und essayistischen Aufsätzen besteht, soll als ein verbales Denkmal für ihre Jugendfreundin gelten, deren Gedichte heute bei unzähligen Veranstaltungen in verschiedenen Ländern vielsprachig rezitiert, gesungen und mit theatralischen Mitteln auf kleineren und größeren Bühnen dargeboten werden. Die Gedichte des Czernowitzer Mädchens inspirieren heute mehrere europäische Künstler von Rang. Nur wenige Beispiele seien hier erwähnt: die wunderbaren Vertonungen ihrer Gedichte des Schweizer Musikers David Klein (vgl. S. 55 ff.) oder tiefsinnige Bildsequenzen zu Selmas Leben und Werk der deutschen Malerin Helga von Loewenich.
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Deswegen ist in diesem Falle jedes, auch das kleinste biographische Detail von größter Relevanz. Margit Bartfeld-Feller versucht in ihrem neuen Buch das lebendige Bild der jungen Dichterin sichtbar zu machen. Es sind Gedächtnissplitter, Momentaufnahmen, Traumeinfalle: Schulalltag, gemeinsame Spaziergänge und Kinderspiele, „brennende Geheimnisse“, „verbotene“ Lektüre, erste Liebe und erste heimlich niedergeschriebene Gedichte… Daraus entsteht ein buntes Mosaik, das für den Leser als Hintergrund dieser Gedichte dienen kann. Alles blieb bei Selma unerfüllt – ihre Jugend in ärmlichen Verhältnissen, die mit dem Einmarsch der deutschen und rumänischen Truppen in Czernowitz so jäh abgebrochen wurde, ihre glühende, leidenschaftliche, jedoch kaum erwiderte Liebe, ihr von den grausamen Berserkern weggenommenes Leben.