Spätmittelalterlicher Nationalismus
Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft
Claudius Sieber-Lehmann
Der Begriff »Nationalismus« ist erst für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts belegt. Seine Anwendung auf frühere Jahrhunderte scheint ein Anachronismus zu sein. Andererseits begegnen in Quellen aus der Zeit der Burgunderkriege (1474–1477) immer wieder Formulierungen, die an die nationale Sprechweise des 19. und 20. Jahrhunderts erinnern. Claudius Sieber-Lehmann fragt, wie zu erklären ist, daß dort so oft von einer teutschen nation, der Tútsch nacion, von Tútschen und Welschen die Rede ist.Im Reich taucht teutsche nation nach dem Fall Konstantinopels 1453 und im Zusammenhang mit der anti-osmanischen Kreuzzugspropaganda gehäuft auf, grundsätzlich in kirchlichem Kontext. Die Städte am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft, Gegner des burgundischen Herzogs, übernehmen den Begriff, ebenso das Feindbild von den Türken und übertragen beides auf Karl den Kühnen, den Türk im Occident, und seine welschen Truppen. Eine ins einzelne gehende Analyse der Ereignisse des Jahres 1474 zeigt, wie wichtig welschenfeindliche Argumentationsmuster waren und daß die ungleiche Allianz von oberrheinischen Städten und Eidgenossen sich immer wieder auf ihr gemeinsames Deutschsein berief. Die breit angelegte Untersuchung ergibt: es ist legitim, von einem eigenständigen Nationalismus des Spätmittelalters zu sprechen, der sich in dem weltlichen Kreuzzug der südwestdeutschen Städte gegen Karl den Kühnen äußerte.