Spielräume und Grenzen der Interpretation.
Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft im Gespräch
Nikolaus Linder, Michele Luminati, Wolfgang W. Müller, Enno Rudolph
Zur Reihe:
Für die Kultur- und Sozialwissenschaften, für die Rechtswissenschaften und die Theologie sind Fragen nach dem Zusammenhang von „Text und Normativität“ gleichermaßen zentral. Rechtstexte, religiöse Dokumente, epochale philosophische und literarische Werke beanspruchen normative Geltung oder erhalten im Laufe ihrer Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte normative Bedeutung: Was unterscheidet normative von nicht-normativen Texten, unter welchen kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen besitzt ein Text normative Geltung, durch welche historischen Prozesse der Kanonisierung und Kodifizierung erlangt ein Text normative Bedeutung? Und was heißt es, umgekehrt, für Normen und vorgängige normative Überzeugungen, dass sie in Texten formuliert, kommuniziert und tradiert werden?
Der Buchstabe tötet, der Geist tötet auch. (Carlo Ginzburg)
Kulturen definieren sich über Texte, und sie definieren sich über Normen. In der Verschränkung beider Elemente – Text und Normativität – zeigen sich kulturformative Prozesse, die strukturell und historisch analysiert werden können: als Textualisierung von Normen, als Normativierung von Texten und als regulativer, normierter Umgang mit Texten. Dieser Umgang wird als Interpretation bezeichnet: Etwas Unbekanntes wird mit einem Bekannten verdolmetscht und ermöglicht es auf diese Weise, Texte zu verstehen. Jedes Textverständnis ist mithin interpretatorisch, jede Interpretation aber auch – pointiert gesagt – häretisch. Denn der Sinn des Texts bestimmt sich immer nach den Regeln, die seine Auslegung lenken. Transdisziplinäre Vergleiche von Interpretationsregeln und die Auseinandersetzung mit Fragen der Auslegung über akademische Fachgrenzen hinweg standen im Mittelpunkt einer Tagung, die 2009 an der Universität Luzern stattfand, und deren Beiträge im vorliegenden Tagungsband versammelt sind.
Beiträge:
Carlo Ginzburg: Der Buchstabe tötet. Einige Implikationen von 2 Kor 3-6.
Andreas Mauz: Textgenese und Normativität. Heiligende Schreibszenen in prophetischer und epischer Tradition.
Inge Kroppenberg: „Ut interpretatio desideraret prudentium auctoritatem“ – Interpretation und Interpretationsverbot(e) in der antiken römischen Jurisprudenz.
Carsten Dutt: Absichten und Texte. Intentionalismus und Antiintentionalismus in der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik.
Franc Wagner: Text im Kontext.
Paolo Becchi: „Interpretation“ im antiken, mittelalterlichen und modernen Sprachgebrauch. Ein Überblick
Emil Angehrn: Der Text als Norm der Interpretation?
Thomas Steinfeld: Die Enden der Parabel. Über das Wort als Norm und den Satz als unterschätzte Größe der Interpretation.
Pierre Bühler: Norma normans – norma normata: zum Umgang mit der Normativität in der Auslegung der Heiligen Schrift.
Riccardo Guastini: Kognitivismus und Skeptizismus in der Theorie juristischen Auslegung.
Peter Hofmann: Die Bibel als Erste Theologie, der Kanon als Norm? Zur systematisch-theologischen Bedeutung einer intertextuellen Schriftlektüre