Streifzug durch die katholische Literatur und Literaturkritik der Jahre 1907-1909 im Hintergrund der strittigen Positionen um katholische Inferiorität und Moderne
Retrospektive und Ausblick
Irmgard Gehle
Die katholische Literatur war Mitte des 19. Jh. in die Rolle einer „Exilliteratur“ geraten. Entscheidend für diese Entwicklung waren neben der Aushöhlung der christlichen Vorstellungen und Begriffe die Bedrängung durch den Relativismus und Materialismus sowie die Dominanz der Naturwissenschaften. Zum Erhalt der katholischen Kultur trug in dieser Zeit vor allem die kon fessionelle Literaturkritik bei, die ihre Aufgabe darin sah, den gläubigen Leser vor „falschem“ Gedankengut und vor dem „modernen Literatur- Chaos“ zu bewahren. Die überwiegend geistlichen Kritiker predigten die Einheit von Religion, Kunst und Menschenbild, und ihre Empfehlungskataloge dienten zur allgemeinen Orientierung. Der von G. zusammengestellte Band spiegelt die Atmosphäre der damaligen Debatten. Mithilfe einer umfangreichen Auswahl von Rezensionen will G. den Standort der Zeitschriften „Literarische Warte“, „Gottesminne“, „Der Gral“ und „Über den Wassern“ in der Entwicklung der katholischen Kultur bestimmen. Auffällig ist ihr Ringen um die Überwindung der katholischen Inferiorität bei gleichzeitiger Bewahrung des spezifisch katholischen Propriums. Die Jahre 1907 bis 1909 repräsentieren dabei eine bewegte Zeit, in der die widersprüchlichsten Richtungen parallel existierten. Den so genannten Modernisten ging es besonders um eine Öffnung der Kirche für neue wissenschaftliche Erkenntnisse, um Anerkennung der historisch- kritischen Bibelforschung und Verbesserung der theologischen Ausbildung. Mit ihren Postulaten stießen sie auf heftigen Widerstand in der kirchlichen Hierarchie. Der Modernismus wurde von Papst Pius X. 1907 offiziell verdammt. Trotz diesem Verdikt und dem 1910 eingeführten Antimodernisten-Eid konnte die Bewegung jedoch nicht unterbunden, sondern lediglich geschwächt werden. G. bietet einen Katalog katholischer Schriftsteller und ihrer Werke, vor allem derjenigen, die vornehmlich geistlichen Literaturkritikern als empfehlenswert galten. Indem sie anhand ausgewählter Besprechungen die Rezeption der jeweiligen Werke anschaulich werden lässt, legt G. den Schwerpunkt auf im Original erhaltene literaturwissenschaftliche Analysen. Anstelle theoretischer Ausführungen wird so an praktischen Beispielen vorgeführt, wie, auf wen bzw. was und auf welche Weise in den einzelnen Texten reflektiert wird. Somit wird der Leser direkt auf die Problematik einer objektiven Deutung historischer Sachverhalte und Argumentationslinien gestoßen. Zu G.s unbestreitbaren Verdiensten gehört der unermüdliche Eifer, mit dem sie Quellen erschließt und ihre angemessene Auswertung verfolgt. Der Band macht Spuren vergessener oder verdrängter Erfahrungen am Schnittpunkt von deutscher Literatur und Moderne sichtbar und liefert so wertvolles Material zur Diskussion über Existenz und Eigenart der katholischen Literatur, welche heutzutage im wissenschaftlichen Diskurs immer häufiger berücksichtigt werden. Es finden sich viele bedeutende Namen, die der katholischen Literatur Richtung und Gepräge gegeben haben. Die meisten im Band erwähnten Schriftsteller konzentrieren sich auf die Darstellung des inneren Lebens ihrer Helden, wobei die katholische Weltauffassung – sei es direkt oder indirekt – zur Geltung gebracht wird. Vielfach lassen sich tiefgehende Analogien zwischen einzelnen Werken feststellen. So gibt G. einen bemerkenswerten Überblick über die Rezeptionslenkung der katholischen Leserschaft zu Beginn des 20. Jh. Die Fülle der Fakten zwingt dabei zur ständigen Konzentration, setzt beim Leser ein nicht geringes Vergleichsvermögen voraus und erschwert einem nicht in die Thematik Eingeweihten die Lektüre. Leider fehlen die in „Hochland“ erschienenen Besprechungen, was jedoch einer Umfangbegrenzung geschuldet sein mag.
Aleksandra Chylewska-Tölle
in: Geist und Leben, Zeitschrift für christliche Spiritualität, Heft 1, Januar März 2011, 104-105