Text und Leben.
Goethes Spiel mit inner- und außerliterarischer Wirklichkeit in "Dichtung und Wahrheit".
Stefanie Haaß
Seit Erscheinen von »Dichtung und Wahrheit« machen sich Leser und Interpreten vom Titel ausgehend Gedanken über das Verhältnis von Wahrheit und Dichtung in Goethes Autobiographie. Der kaum zu entwirrende Zusammenhang von Leben und Lebenserzählung zeigt sich in vielen Facetten im Text: Vom Titel bis zum Schlußzitat spielt Goethe mit dem wechselseitigen und wechselhaften Verhältnis von Literatur und Leben, mit Rollen, Identitäten und Verkleidungen. Dabei streift er Grundfragen der Gattung und der Vergleichbarkeit von Text und Leben und ist weit entfernt davon, theoretisch oder poetologisch zu spekulieren. Die Literarisierung des Lebens durch den Protagonisten – die sich mal befreiend, mal problematisch gestaltet – ist eines der Leitmotive dieser Autobiographie, und die Autobiographie wiederum ist ein weiterer Beleg für diese Eigenart des Verfassers.
Die Interpretation schlägt einen Mittelweg ein zwischen Biographismus einerseits, der die literarische Komposition verkennen muß, und Ausklammerung jeden Realitätsbezugs andererseits, was der Besonderheit autobiographischer Fiktion nicht gerecht werden kann. Die Verfasserin ergänzt ihre Untersuchung mit Studien zur narrativen Identität. Ein wichtiger Aspekt ist das Phänomen des »Dämonischen«. Es eröffnet am Ende der Autobiographie einen Blick auf die reizvollen Schwierigkeiten der Lebensdeutung. Das »Dämonische« entzieht sich eindeutigen Interpretationen, es ist ein Bekenntnis zur Offenheit und Unabschließbarkeit der Lebensgeschichte. Sowohl auf der Ebene des Protagonisten als auch auf der des Erzählers entfaltet und verwirrt sich das Ineinander von Text und Leben in immer neuen Varianten. Dabei erweist sich Goethes Spiel mit dem Verhältnis von Poesie und Wirklichkeit als die angemessene Form zur Darstellung und Inszenierung seines Dichterlebens.