Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft
Vorspiel: Die Jagd des Aktaion (Ovid, ‚Metamorphosen‘ 3, 131-259)
Jürgen Paul Schwindt
Im 150. Bd. der ,Bibliothek‘ geht es um die Einführung einer neuen Perspektive auf die Philologie. Diese wird in der Auseinandersetzung mit einem Grundtext der europäischen Literatur entwickelt. Ovids „Jagd des Aktaion“ kreist um die Verhandlung der Grenze von Innen und Außen, Gott und Mensch, Mensch und Tier, Tier und Beute, Natur und Kultur, Herr und Knecht. Mehr noch als ein Drama des Sehens ist die „Jagd des Aktaion“ ein Drama der Sprache und der Verfügung über die Sprache. Im Zentrum der ‚Metamorphosen‘-Poetik wird die bloße Verständigung über die Katastrophe im Herzen der Zivilisation zum ‚experimentum crucis‘. Und die Philologie? Als Archäologie der Moderne beobachtet sie, wie der Text all die Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten, die Atopien und Utopien, die Paradoxien und Paroxysmen der Kunst und des Lebens und so auch des Denkens denkt, und staunt, wenn sie in der Interpretation, diesem „Protokoll der Merkwürdigkeiten oder des Wunderbaren“ (‚thaumatographía‘), sich selbst erkennt.