Über Vernunft und Offenbarung in al-Ghazālīs Denken
Studien zur Kritik der Philosophie im islamischen Denken – Band 1
Yusuf Kuhn
Abū Hāmid al-Ghazālī (gest. 505/1111) ist gewiss einer der größten Philosophen in der Geschichte der Philosophie, die zugleich eine grundsätzliche Kritik der Philosophie entwickelt haben. Sein ganzes Denken bewegt sich im Spannungsfeld von Philosophie und deren selbstkritischer Reflexion. Im Rahmen des islamischen Denkens entwickelt er so sowohl eine Philosophie wie auch eine Kritik der Philosophie, indem er an die der Tradition der griechischen Philosophie entwachsenen islamischen Philosophie, wie sie sich bis in seine Zeit herausgebildet hat, anknüpft. Das rechtfertigt, den ersten Band dieser Reihe dem Denken al-Ghazālīs zu widmen.
al-Ghazālī hat uns ein vielschichtiges und reiches Werk vermacht, das in seiner gewaltigen Fülle mitunter unübersichtlich erscheinen mag. Da genügt es nicht, die Thematik auf die Kritik der Philosophie im islamischen Denken einzugrenzen, um einen Weg durch dieses klüftige Gelände zu bahnen. Es ist zudem erforderlich, das Augenmerk besonders auf das spannungsreiche Verhältnis von Vernunft und Offenbarung zu richten. al-Ghazālī behandelt dieses Thema häufig mit Blick auf eine Regel, die er qānūn at-taʾwīl nennt, was in einer ersten Annäherung mit Regel der Interpretation übersetzt werden kann. So liegt es nahe, diese Richtschnur zum Leitfaden zu wählen, um sich daran entlang zu hangeln und damit einen Zugang zu al-Ghazālīs Werk und Denken zu eröffnen. Dieser rote Faden, der die Texte des vorliegenden Buches durchzieht, erlaubt zugleich, die übergreifenden Fragen nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung sowie der Kritik der Philosophie stets im Blick zu behalten. Da die Regel der Interpretation al-Ghazālī als Richtschnur zur Behandlung echter oder vermeintlicher Widersprüche zwischen Vernunft und Offenbarung dient, steht sie in einem engen Zusammenhang mit der Frage nach Rolle und Stellenwert der sich auf Vernunft berufenden Philosophie im islamischen Denken, das stets an Offenbarung zurückgebunden bleibt.