Wandern und Sozialismus
Zur Geschichte des Touristenvereins "Die Naturfreunde" im Kaiserreich und in der Weimarer Republik
Dagmar Günther
Alles wandert. Niemand spricht dabei von Sozialismus. So oder so ähnlich wäre heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, der Titel vorliegender Untersuchung zu kommentieren. Zwar erfreuen sich Wandern, Bergsteigen und Schilaufen im Zuge einer (Wieder?)Aufwertung von Gesundheit und Natur seit den 1980er Jahren wachsender Beliebtheit. Doch geschieht dies weltanschaulich neutral. Dass und wie Wandern und Sozialismus in der Vergangenheit tatsächlich ein Verhältnis miteinander eingehen, inwiefern dieses als Wahlverwandtschaft bzw. gefährliche Liebschaft diskutiert und praktiziert wurde: dies erforscht Dagmar Günther in ihrer Studie zur Geschichte des Touristenvereins „Die Naturfreunde“. Der 1895 in Wien gegründete Touristenverein „Die Naturfreunde“ entwickelt sich nach dem Ersten Weltkrieg von einem kleinen österreichisch-bayerischen Bergsteigerverein zu einer mitgliederstarken, weltweit operierenden Wander- und Reiseorganisation mit deutlichen Verdichtungen in Deutschland und Österreich. Im Verhältnis zu den „anderen“Wandervereinen begehen die Naturfreunde touristisch und sozial neue Wege. Zum einen verbinden sie je nach Lage der Ortsgruppen einen Alpin-, Mittelgebirgs- und Flachlandtourismus, zum anderen beansprucht der Verein, die „Liebe zur Natur“ innerhalb der städtischen Arbeiterschaft zu erwecken. Dieses touristische Neuland wird von den Naturfreunden allerdings nicht als Verlängerung der bürgerlichen Sozialreform, sondern als sozialistische Arbeiterkulturorganisation erschlossen. Dagmar Günther akzentuiert in ihrer Studie die konfliktreichen Konstruktionsprozesse der Naturfreunde-Identität im Spannungsfeld „(alpin)touristische Teilkultur“und „Teil der Arbeiterbewegungskultur“¹. Dabei steht auch der „Eigensinn“der touristischen Praxis der Naturfreunde zur Diskussion. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf der deutschen Naturfreunde-Bewegung. Jahrhundertwende und Weimarer Republik sind dabei nicht nur als Zäsuren der Naturfreunde-Geschichte angesprochen, sondern auch als eine kulturell besonders spannende Phase der „klassischen Moderne“.