Weiblichkeit und Differenz
Kristeva und Irigaray über die Bedeutung der Marienfigur
Christine Freitag
Welchen Beitrag leistet die Marienfigur zur weiblichen Subjektbildung? – Die Philosophinnen Luce Irigaray und Julia Kristeva gehen dieser Frage nach und zeigen auf, wie tradierte religiöse Überzeugungen auch im 21. Jahrhundert noch die Kategorien mitbestimmen, vor welchen über das Weibliche gedacht und gesprochen wird. Im Zentrum ihrer Theorien über das Weibliche steht deshalb die Marienfigur, die als abwesende Frau im Verborgenen einer westlichen Theologie eine kulturelle Verdrängung des Weiblichen verkörpert.
Die Befreiung dieser verdrängten Weiblichkeit suchen sie in der Deutung der künstlerischen Darstellungen von Maria, denn im unberührten Kunstraum, dort, wo Maria jahrhundertelang im Verborgenen beheimatet war, zeigt sich, wie sich Weiblichkeit nicht nur über körperliche, sondern auch über spirituelle Dimensionen erschließen lässt: Für Irigaray offenbart die Mariendarstellung die Einheit von natürlichen und spirituellen Qualitäten, weshalb sie das Weibliche als Trägerin der göttlichen Kraft bestimmt. Und Kristeva erkennt in den Mariendarstellungen das Urprinzip der Weiblichkeit, dessen Anerkennung ein Subjekt erst in ein fruchtbares Wechselspiel von Ursprung und Erweiterung und von Verdrängtem mit Vertrautem führt.