Das Volk.
Realer oder fiktiver Souverän?
Walter Leisner
„Das Volk“ steht heute in ethnischer und gesellschaftlicher Auflösung. Ob es sich in Wanderungsbewegungen neu formieren wird, ist noch unklar. Den „natürlichen“ Volkssouverän früherer Zeiten – oft schon nur Theorie – gibt es nicht mehr. „Sein Wille in Wahlen und Abstimmungen“ ist staatsrechtlich Ausdruck streng begrenzter Organkompetenz; Wahlen sind vor allem Personalbestimmungen auf Zeit, weithin bleibt der inhaltliche Volkswille unfassbar. Volk und Volkswille werden immer mehr zur Fiktion, als solche selbstverständlich. In Föderalismus und Kommunalisierung wird der „gestufte“, fraktionierte Souverän zum Problem.
Diese Fragen werden nicht häufig als solche gestellt, noch seltener wird ihre Beantwortung vertiefend versucht. Und doch ist „Volkssouveränität“ das Grundprinzip der Demokratie, nur ein anderes Wort für sie; immer lauter wird mehr Volksbeteiligung gefordert, mehr direkte Demokratie. Dies ist ein Weg aus dem Dilemma des fiktiven Volkes, rechtlich wie politisch wird er aber nicht allzu weit führen. Repräsentative Volksherrschaft mag theoretisch wenig befriedigen – in der Praxis des Staatsrechts ist sie kaum zu erschüttern.
Es bleibt daher weithin beim vielfach in staatsrechtlich und politisch entwickelten Formen geführten und verführten Volk. Ihre Analyse ergibt Ansätze zu einer Theorie der Demagogie. Als gemässigte ist diese ebenso notwendig in der Demokratie, als Dialog mit den Bürgern, wie in ihrer immanenten Steigerungsfähigkeit gefährlich, ja verheerend. Die Demokratie muss mit dieser Gefahr leben, aber sie darf, sie muss ihr weiter die Überzeugung, ja die rechtliche Fiktion der Volkssouveränität entgegensetzen. Hier mögen sich irrationale Grundlagen der Staatsform finden. Solange sie Freiheit tragen, sollten sie halten.