Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland, 1770–1850
Doris Kaufmann
Die Herausbildung bürgerlicher Identität in Deutschland, aufklärerische Selbstreflexion, die Entwicklung einer aufklärerisch geprägten Mentalität: Doris Kaufmann erfaßt diese Problematik von einem ungewöhnlichen Ansatz her. Sie untersucht die sogenannte Irrenfrage und deren Bedeutung in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft.Die beunruhigende Erkenntnis, daß Vernunftaufklärung an den seelischen »Nachtseiten« des Menschen scheitern kann, wurde am Ende des 18. Jahrhunderts in der bürgerlichen Öffentlichkeit in Deutschland breit diskutiert. Das führte zu einer Änderung der Einstellung gegenüber seelischer Abweichung. Die politische Umsetzung dieses Einstellungswandels wird hier an den Programmen und an den Maßnahmen zur Reform der Irrenanstalten in Preußen und in Württemberg dargelegt. Es folgen zwei Studien zur Sozialgeschichte der Irren, über das Leben in einer staatlichen Irrenanstalt (Zwiefalten in Württemberg) und über den Umgang mit Irren auf dem Land (Landkreis Warendorf in der preußischen Provinz Westfalen). Anschließend interessiert die Frühgeschichte der Psychiatrie. Aus der allgemeinen Seelenkunde wurde ein ärztlicher Beruf: der »psychische Arzt«, später der Psychiater. Mit der Professionalisierung änderte sich das Verhältnis von Arzt und Patient; im Hinblick auf den Zusammenhang von psychischer Abweichung und Kriminalität kam es bald zu Kompetenzkonflikten mit den Juristen.Die Untersuchung vertieft das Verständnis der Aufklärung und das Bild von der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland. Sie zeichnet sich durch eine besondere Verbindung von Quellenerschließung, Einzelfallstudien und systematischer Analyse aus.