Der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit im Auslieferungsrecht
Die sinngemäße Umstellung des Sachverhalts nach § 3 Absatz 1 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen
Arne Zeidler
Der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit ist ein internationales Grundprinzip des Auslieferungsrechts. Nach diesem Prinzip liefert der Zufluchtstaat einen Straftäter nur dann an den ersuchenden Staat aus, wenn die dem Täter vorgeworfene Handlung auch nach dem Recht des Zufluchtstaates eine strafbare Handlung darstellt. Anhand der Auslieferungsunterlagen würde beispielsweise ein deutscher Richter prüfen, ob die Handlung nach deutschem Strafrecht strafbar ist, bevor er eine Auslieferung an den ersuchenden ausländischen Staat bewilligt. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf einer Klausel des deutschen Auslieferungsrechts, dem Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG). Nach § 3 Absatz 1 IRG reicht es für die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit aus, wenn die Tat nach „sinngemäßer Umstellung des Sachverhaltes“ auch nach deutschem Recht strafbar wäre. Es stellt sich die Frage, welche Sachverhaltselemente umgestellt werden dürfen, um zu prüfen, ob die Tat nach deutschem strafbar wäre. Zu dieser Frage herrscht in der deutschen Rechtsliteratur und auch in der Rechtspraxis keine klare Linie. Zur Klärung befasst sich der Autor mit dem Zweck und der rechtlichen Funktion des historisch gewachsenen Rechtsprinzips der beiderseitigen Strafbarkeit. Dabei stellt sich heraus, dass es nicht mehr die ursprünglichen Beweggründe nationalstaatlichen Souveränitätsdenkens sind, die eine Aufrechterhaltung des Grundsatzes der beiderseitigen Strafbarkeit erfordern. Es zeigt sich vielmehr, dass der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit aus rechtsstaatlichen Gründen einzuhalten ist. Die rechtsstaatlichen Prinzipien des Gesetzlichkeitsprinzips und des Vertrauensschutzes werden durch den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit abgesichert. Der Autor schlägt vor, das Auslieferungsverfahren als Teil eines internationalen Strafverfahrens gegen den Verfolgten anzuerkennen. Vor diesem Hintergrund wird schließlich gezeigt, dass lediglich die Sachverhaltselemente umgestellt werden dürfen, aus denen der ersuchende Staat nach den völkerrechtlichen Regeln des internationalen Strafrechts seinen Strafanspruch herleitet. Dies bedeutet vor Allem, sich die Tat so vorzustellen, als habe sie sich im Hoheitsgebiet des ersuchten Staates ereignet, um so den Ort der Tat, also das als Anknüpfungspunkt anerkannte Territorialitätsprinzip, zu ersetzen. Die Klausel der sinngemäßen Umstellung kann als irreführend bezeichnet werden, da sie suggeriert, dass auch beliebige, weitere Sachverhalteselemente umgestellt werden dürften. Sie hat dazu geführt, dass in der deutschen Rechtsliteratur mitunter die Meinung vertreten wird, für die Bejahung der beiderseitigen Strafbarkeit reiche es aus, wenn der im Ausland verletzte Straftatbestand seinem deutschen Konterpart vergleichbare Rechtsgüter schütze. Überspitzt dargestellt dürfte danach beispielsweise ein Täter, der im Ausland wegen strafbaren Alkoholgenusses bestraft werden soll, nach dort ausgeliefert werden, da es auch in Deutschland Straftatbestände gibt, die das Rechtsgut der „Volksgesundheit“ schützen sollen und die der Täter nach „sinngemäßer Umstellung“ des Sachverhaltes dann verletzt hätte. Die sinngemäße Umstellung des Sachverhalts darf jedoch nicht dazu führen, dass Handlungen als nach deutschem strafbar erklärt werden, die es tatsächlich nicht sind. Kritisch beleuchtet wird dabei auch der Europäische Haftbefehl, in dessen Anwendungsbereich auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit gänzlich verzichtet wird. Eine wesentliche Rolle spielen hier die ausufernden internationalen Strafrechte, die denkbarer Weise dazu führen können, dass jemand auf deutschem Boden eine nach ausländischem Recht strafbare Handlung begeht und daraufhin ohne Prüfung der Strafbarkeit nach deutschem Recht für die Tat ins Ausland ausgeliefert und dort verurteilt wird. Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass eine strikte Unterscheidung zwischen Auslieferungs- und Strafverfahren, wie sie beispielsweise vom Bundesverfassungsgericht vertreten wird, reiner Formalismus ist.