Der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit im Rechtshilfe- und Strafanwendungsrecht
Peter Conrad
Der Begriff „beiderseitige Strafbarkeit“ bedeutet für sich genommen, dass eine Handlung nach dem Recht zweier Staaten strafbar ist. Bedeutsam ist er sowohl im Rechtshilfe- als auch im Strafanwendungsrecht. Im Auslieferungsrecht stellt der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit eines der traditionellen und grundlegenden Prinzipien dar. Beiderseitig strafbar bedeutet, dass die dem Verfolgten vorgeworfene Tat sowohl nach dem Recht des um Auslieferung ersuchenden als auch nach dem Recht des um Auslieferung ersuchten Staates strafbar sein muss. Trotz seiner festen Verankerung in den bi- und multilateralen Rechtshilfeverträgen der Staaten in Europa war der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit zeit seiner Existenz umstritten. Eine neue Intensität erfuhr die Diskussion mit dem Erlass des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl im Jahre 2002. Durch den Rahmenbeschluss wurden die Mitgliedstaaten verpflichtet, die beiderseitige Strafbarkeit für bestimmte Straftaten als Auslieferungsvoraussetzung abzuschaffen. Das daraufhin verabschiedete Europäische Haftbefehlsgesetz wurde vom Bundesverfassungsgericht insgesamt für nichtig erklärt. Mit dieser Studie wird der Versuch unternommen, das Prinzip der beiderseitigen Strafbarkeit aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Dies beinhaltet, dessen Bedeutung und Stellung im Rechtssystem sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene zu definieren und Lösungsansätze für verfassungs- und europarechtliche Konflikte aufzuzeigen, die aus seiner möglichen Abschaffung resultieren. Eingegangen wird auch auf die Frage, welche Elemente der Strafbarkeit (objektiver Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld) nach dem Recht des ersuchten Staates erfüllt sein müssen und inwieweit die für die Auslieferung gefundenen Ergebnisse auf die Vollstreckungshilfe, die Durchlieferung und die sonstige Rechtshilfe anwendbar sind. Die Untersuchung des Strafanwendungsrechts und der dortigen Verankerung der beiderseitigen Strafbarkeit (dort als Erfordernis der Tatortstrafbarkeit bezeichnet) runden das Buch ab. Deutsches Strafrecht ist oft nur dann für im Ausland begangene Taten anwendbar, wenn die Tat auch nach dem Recht des Tatortes strafbar ist. Die einzelnen Anknüpfungsprinzipien strafrechtlicher Zuständigkeit (z. B. das aktive und das passive Personalitätsprinzip) werden auf ihre völker- und verfassungsrechtliche Zulässigkeit hin überprüft. Dies geschieht unter besonderer Berücksichtigung des Tatortstrafbarkeit-Erfordernisses und seiner Funktion. Analog zum auslieferungsrechtlichen Teil wird schließlich der Frage nachgegangen, inwieweit seine Abschaffung völker- und verfassungsrechtlich zulässig ist.