Die Öffnung des Sichtbaren
Jean-Luc Marion
Jean-Luc Marion entwirft eine Phänomenogie des Gemäldes, die sich auf die Kompetenz der Theologie im Verständnis des Bildes beruft. Das theologische Erbe sieht er in der für die Phänomenologie grundlegenden Rede von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit angelegt, für die die Ikone eine der größten Herausforderungen darstellt. Die Frage nach der Malerei stellt sich weder zuerst noch einzig den Malern oder weniger noch allein den Ästhetikern, sondern der Sichtbarkeit selbst, also all denjenigen, denen das Sehen nichts Selbstverständliches ist. Und aus diesem Grund kann sich die Philosophie – gerade in der Form der Phänomenologie – in der Malerei zweifellos nur heimisch fühlen. Denn die Phänomenologie behauptet nur deshalb, „zu den Sachen selbst zurückzukehren“, weil sie es zunächst unternimmt, das zu sehen, was sich dem Sehen darbietet. Die außergewöhnliche Sichtbarkeit des Gemäldes wird so zu einem Weg, der Phänomenologie im Allgemeinen zu begegnen. Genügt jedoch die Phänomenologie, um die Sichtbarkeit und folglich alle überhaupt möglichen Gemälde zu erfassen? Erlaubt ihr das Gemälde nur einen Status oder verfügt es nicht über andere Quellen? Indem wir vom Idol zur Ikone übergehen, verfolgen wir zwar frühere Untersuchungen, jedoch vor allem die Notwendigkeit der Sache selbst: das Gemälde, also das Sichtbare par excellence, bietet sich dem Dilemma in zwei Formen der Erscheinung dar, die gegenteilig, gegnerisch und indes unverzichtbar, untrennbar sind. Die Theologie wird in dieser Situation zu einer unwiderruflichen Instanz für jegliche Theorie des Gemäldes. Indem das ästhetische Denken diese manchmal zurückgewiesen und dann einfach vergessen hat, hat sie sich in lange Aporien verfangen. Es ist jetzt an der Zeit, sich davon zu lösen und dem Sichtbaren im Sinne einer Gabe des Erscheinens vor das Angesicht zu treten.