Englanderfahrung und Gesellschaftskritik
Nathaniel Hawthornes English Notebooks und Our Old Home
Susanne Heinz
Die kulturgeschichtliche Bedeutung des transatlantischen Reisens als Moment nationaler Selbstdefinition rückt zunehmend in den Blickpunkt des Interesses. England war für den amerikanischen Europa-Reisenden des 19. Jahrhunderts eine wichtige, zumeist sogar die wichtigste Station der Reise. Die vorliegende Studie befasst sich mit den nichtfiktionalen Englandtexten des Romanciers Nathaniel Hawthorne: den English Notebooks und Our Old Home. Während Hawthornes Kurzgeschichten und Romane, allen voran The Scarlet Letter (1850), noch heute stark rezipiert und in der Forschung diskutiert werden, fristen die nichtfiktionalen Englandtexte eher ein Schattendasein. Hawthorne weilte von 1853 bis 1857 als amerikanischer Konsul in Liverpool. Die unmittelbaren Beobachtungen und Eindrücke aus dieser Zeit hielt er in den umfangreichen Notizbüchern, den English Notebooks, fest, die erst posthum veröffentlicht wurden. Dem Reisebericht Our Old Home (1863) kommt im Spätwerk des Autors eine ganz besondere Bedeutung zu: Es ist nicht nur das einzige nach der Rückkehr in die USA verfasste grössere Werk, sondern auch die letzte Veröffentlichung vor seinem Tod. Der Vergleich beider Texte ermöglicht interessante Einblicke in die literarische Umsetzung der Reiseerfahrung im späteren Reisebericht. Zugleich lässt sich erst unter Hinzunahme der English Notebooks das komplexe England-Bild dieses Autors ermitteln. Der erste Teil der Arbeit bietet eine gattungsgeschichtliche, biographische und historisch-thematische Einordnung der Werke. Im zweiten Teil steht die vergleichende Interpretation beider Texte unter einem sozialkritischen Aspekt im Vordergrund. Wie kaum ein anderes Thema der Reiseerfahrung erweist sich die Darstellung des englischen Klassengefüges als fruchtbarer Ausgangspunkt, um die Eigen- und Fremdbilder sowie die divergierenden Gesellschafts- und Staatsauffassungen der beiden Nationen exemplarisch zu beleuchten. Hawthornes Reisebücher zu England vermitteln wichtige Einblicke in die individuelle und nationale Psyche des Amerikaners der ante-bellum-Generation.