Philosophie unter den Aspekten Mündlichkeit, Klang, Performativität und Präsenz
Eine Untersuchung zu den deutschen Predigten Meister Eckharts
Marie-Luise Sessler
Offenbarungsreligionen stehen vor der Schwierigkeit, das Offenbarte, welches sich in einem einmaligen Ereignis an eine exklusive Person richtete und von dieser aufgenommen wurde, schriftlich zu organisieren, festzuhalten und weiterzugeben. Ein populärer religionswissenschaftlicher Ansatz vertritt die Ansicht, dass die geoffenbarten und durch die Propheten in die Schriftreligion überführten Texte mittels ihrer Lautlichkeit und Ästhetik den Vollzug des einmaligen Ereignisses der Offenbarung re-inszenieren. Meister Eckhart steht vor dem Hintergrund eines philosophisch geprägten Christentums des Mittelalters. Der christliche Philosoph ist Mitglied des Dominikanerordens, dessen Hauptaufgabe in der Predigertätigkeit liegt. Ähnlich wie die Propheten verkündet auch der Prediger das geoffenbarte Wort, um es mit der Gemeinde zu teilen und es lebendig zu machen. Die Besonderheit an Eckharts Predigten besteht darin, dass er dort auch hoch komplexen philosophischen Lehren Raum gibt und diese mündlich und in der Volkssprache präsentiert. Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass die Predigten Eckharts die philosophischen und theologischen Inhalte nicht in einer rein sachlichen und intellektuellen Weise vermitteln. Lautlichkeit, Klang und Ästhetik spielen eine bedeutende Rolle: Biblische Ereignisse werden in Eckharts Predigten durch performative und präsentische Strategien aktualisiert sowie erlebbar und vollziehbar gemacht. Aber auch philosophisch komplexe Themen innerhalb der Predigten finden auf diese Weise ihre formale Darstellung. Dies eröffnet auch einen völlig andersartigen (als vielleicht in der modernen Philosophie gewohnten) Zugang zur Philosophie, denn Eckharts philosophische Lehren werden auch auf eine sinnliche Art wahrnehmbar gemacht.