Die vorgelegte Studie widmet sich zunächst grundlegenden Fragen wie dem rhetorischen Paradigma im Sinne eines spezifischen theoretischen und praktischen Ansatzes, dem Gegenstandsbereich politischer Rhetorik, deren Geschichte und epochalen Gestaltungen, den vielfältigen Faktoren in Redeprozessen und Strategien der Persuasion. Alsdann gilt die Aufmerksamkeit den zahlreichen Funktionen und Kommunikationsformen politischer Rhetorik, genannt seien vor allem Propaganda, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit, Manipulation und Eristik, ideologische Persuasion, Varianten des Gesprächs wie Diskussion, Debatte, Talk, zu guter Letzt Agitation und der Einsatz politischer Religion. Im Zentrum der Betrachtung steht der Zusammenhang von politischen Systemen und jeweiligen Ausprägungen der politischen Rhetorik, wobei die große Bedeutung des öffentlichen Diskurses für demokratische Gesellschaften und der hohe Stellenwert traditioneller und neuer Medien herausgearbeitet werden. Alsdann rücken in den Fokus des Interesses aktuelle Probleme für die heutige Politik, speziell in der Bundesrepublik Deutschland, wie die Chancen, Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Legitimation zu gewinnen, und die Aporien, politische Akzeptanz zu erlangen. Die Entwicklung normativer Maßstäbe für rhetorische Führung und die Vermittlung politischer Gestaltung sowie für eine ethisch fundierte Rhetorikkultur rundet die Studien ab, wobei insbesondere auch gegenwärtig wichtige Rhetoriken ins Blickfeld rücken.
Die Überlegungen zur politischen Rhetorik in den Kontext der politischen Kultur zu stellen, liegt nahe. Wie die unterschiedlichen Wortdeutungen im Einzelnen ausschauen mögen, so ist in allen Definitionen im Kern Folgendes gemeint: wichtige Maßstäbe im Sinne von Grundwerten, Leitbildern, Tugenden, Symbolen in Gestalt von Werthaltungen, -strukturen und -ordnungen im Bereich des Politischen. Es besteht über die Richtungen politischer Reflexion, die mit dem Begriff anvisiert werden sollen, weitgehend Übereinstimmung: „Politische Kultur“ meint einen umfassenden Politikbegriff, was Ebenen, Träger und Vermittler sowie Einstellungs- und Verhaltensdimensionen angeht; der Begriff beinhaltet sowohl analytische als auch normative Aspekte; sieht Politik im Gesamtkontext kultureller Orientierungen; zielt auf sog. Zeitdiagnostik und Kulturkritik und fragt nach wesentlichen Herausforderungen und Lösungen. Am wichtigsten ist der erste Punkt des umfassenden Politikbegriffs. Es geht nicht nur um Werte und Ordnungen von Institutionen, sondern vor allem auch um die individuelle Dimension der Einstellungen und Haltungen von Menschen und Gruppen, natürlich ebenso um das Wechselspiel zwischen individueller und struktureller Ebene; Maßstäbe für zwischenmenschlichen Umgang, Sprache und Sprechen, moralische Glaubwürdigkeit, die Vermittlung von Politik und ihre symbolische Darstellung stehen im Zentrum der Analyse.
Die vorgelegten Betrachtungen zur Kultur politischer Rhetorik resultieren aus einer jahrzehntelangen Beschäftigung des Autors mit Themen der politischen Kommunikation und weisen Bezüge auf zu mehreren Veröffentlichungen, soweit diese Bausteine liefern für eine Phänomenologie persuasiver Rede. Ansatzpunkte der Analyse waren also mehrere Texte des Verfassers, die in der Perspektive der allgemeinen Fragestellungen ausgewertet wurden und zu einer umfassenden Bearbeitung des gewählten Untersuchungsgegenstandes führten.
Die bisherigen Publikationen des Autors zur politischen Rhetorik, auf die Bezug genommen wird, sind insbesondere folgende Bücher und Aufsätze: Propaganda der Friedlosigkeit. Eine Studie zu Hitlers Rhetorik 1920-1933, Stuttgart 1972 (gekürzte Fassung der Dissertation von 1969); Analyse der Strategie der Diffamierung, in: Holtz, G./Wolfanger, M. (Hrsg.): Sprachformen der Politik, Stuttgart 1979, S. 92 ff.; Rhetorik und Politik. Kulturwissenschaft-liche Studien, München 1978; Katastrophenrhetorik. Neue Armut als politischer und religiöser Kampfbegriff, in: Die Neue Ordnung, Heft 1, 1986, S. 24 ff.; Bevölkerungsfragen und Abbau von Besitzständen, in: Heck, B. (Hrsg.): Sterben wir aus?, Freiburg 1988, S. 163 ff.; Diskurs über Bevölkerungsfragen und Familienpolitik, in: Aus Politik und Zeitge-schichte, B 18, 1989, S. 23 ff.; Besitzstandsdenken als Problem der Politik, in: Sonde, Nr. 4, 1989, S. 30 ff.; Streit um den Armutsbegriff, in: Das Parlament, Nr. 33/34, S. 2; Politische Rhetorik. Macht der Rede, öffentliche Legitimation, Stiftung von Konsens, Wiesbaden 2000; Rede als politische Verkündigung. Hitlers Rhetorik in der Endphase der Weimarer Republik, in: Kopperschmidt, J. (Hrsg.): Hitler der Redner, München 2003, S. 301 ff.; Sozialstaat am Scheideweg. Notwendigkeit struktureller Reformen, Grafschaft 2006 (speziell zur Enttabuisierung und Rationalität in öffentlichen Diskursen, S. 17-74); Identität, Integration und Zusammenhalt in Deutschland. Auflösung von Gemeinschaft und Herausforderungen für politische Ordnung und Gestaltung, Grafschaft 2013 (darin viele Bezüge zur Konsensstiftung durch politische Rhetorik); Politische Rhetorik der Gewalt, Berlin 2014 (E-Book); Gesellschaftsbilder für politische Orientierung und Gestaltung, Grafschaft 2015; Nationalsozialistische/faschistische und kommunistische Agitationsrhetorik, in: Handbuch der politischen Rhetorik, hrsg. v. A. Burkhard, Berlin/Boston (de Gruyter, erscheint 2017).
Ziel der nun vorgelegten Untersuchung ist es, aufbauend auf der bisherigen Arbeit Strukturen und Entwicklungen der politischen Rhetorik darzustellen und auch aktuelle Probleme der politischen Rede zu thematisieren, unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklungen in Deutschland.
Eine stärkere Revitalisierung rhetorischer Traditionen erscheint heute in besonderem Maße geboten, da die Politik, so auch in Deutschland, vor großen Herausforderungen steht, zu deren Bewältigung gute politische Rhetorik beitragen kann, vor allem in Gestalt argumentativer Kommunikation und ihrer Anwendung in den verschiedenen Bereichsrhetoriken. Die überlieferten Ansätze und auch neuere anwendungsorientierte Theorien sowie praktische Wegweisungen liefern ein großes Arsenal an Strategien für Überzeugung und Gewinnung eines Publikums. Die Erschließung von Konsensressourcen erweist sich als unabdingbar für politische Führung und Vermittlung politischer Gestaltung.
Unter den aktuellen Problemen, die zu ihrer Lösung einen hohen Begründungs- und Legitimationsbedarf erfordern, seien einige stichwortartig genannt:
• Bewahrung der Gemeinschaft der EU und Bewältigung der Spannungen zwischen den Staaten in vielen Handlungsbereichen (z. B. Zuwanderung/Flüchtlingsfrage, Ungleichheit in der ökonomischen und sozialen Entwicklung/Nord-Süd-Gefälle, Finanzordnung/Euro, Verschuldung der Staaten, Erweiterung der Mitglieder und Austritte einzelner Länder, Zuständigkeitsverteilung zwischen Staaten und EU, Verhältnis von nationaler und europäischer Identität, Forderung weiterer Demokratisierung der EU);
• Führungsfähigkeit der Politik, auch in Deutschland (z. B. Schwierigkeiten bei der Bildung regierungsfähiger Mehrheiten infolge abnehmender Bindungsfähigkeit der Volksparteien und der Entstehung neuer Gruppierungen auf dem rechten und linken Flügel, zunehmend Kritik an etablierter politischer Ordnung durch Protestbewegungen und basisdemokratische Forderungen, Bedrohung durch rechts- und linksradikale bzw. -extremistische Tendenzen, in vielen Bereichen Spaltungen der Bevölkerung in grundlegenden Fragen, z. B. bezüglich der Zuwanderung, Aporien bei notwendigen Strukturreformen in der Perspektive langfristiger Orientierungen);
• Anwachsen von Problemen durch Verstöße gegen die kollektive Generationenverantwortung (Geburtenentwicklung, unzureichende Bildungsmaßnahmen, jahrzehntelange Schuldenpolitik, Leben des Staates und seiner Bürger über ihre Verhältnisse, Vernachlässigung präventiver Vorsorge in vielen gesellschaftlichen Sektoren, zukunftsfähige Gestaltung des Sozialstaates und der einzelnen sozialen Systeme in Generationensolidarität);
• wachsende Ungleichheit und sozio-ökonomische Spannungen in der Gesellschaft durch zunehmende Unterschiede in der Teilhabe an wichtigen Ressourcen wie Bildung, Einkommen, Vermögen, Erwerbsarbeit (Phänomene von sozialer Ausgrenzung und Randständigkeit wie Armut und Prekarisierung, Tendenzen zur Erosion der Mittelschicht und Herausbildung einer Oberschicht mit beträchtlichen Reichtumszuwächsen);
• Leistungs- und Akzeptanzprobleme vieler Handlungsfelder, Institutionen und Organisationen im Wirtschafts- und Finanzsystem (z. B. Finanz-, Banken- und Eurokrise, mangelhafte Verantwortung von Unternehmen für ihr Handeln und nicht selten Rechtsvergehen bis hin zu kriminellem Fehlverhalten, Defizite in der Wirtschaft bezüglich moralischer Verpflichtungen und gesellschaftlicher Gemeinwohlorientie-rung, Vernachlässigung globaler Verantwortung von Staat und Wirtschaft der reichen Länder für große wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten in der Welt);
• Gewährleistung innerer Sicherheit zum Schutz der Bevölkerung (organisierte schwere Kriminalität, Bedrohungen im öffentlichen und privaten Raum durch Diebstahl, Überfälle, Raub, vor allem Einbrüche in Wohnungen etc., Wirtschafts- und Cyberkriminalität, Gewalt rechts- und linksextremer Gruppen, Terrorismus, insbesondere in Form islamistischer Anschläge, Verbesserungen in der personellen und sächlichen Ausstattung der Sicherheitsorgane, Neubewertung des Verhältnisses von Schutz der Privatsphäre und staatlicher Eingriffsmöglichkeiten);
• Durchsetzen grundlegender Reformen in der Umweltpolitik im nationalen Rahmen, vor allem aber in Form notwendiger international verbindlicher Abkommen (nur so erfolgreicher Beitrag des deutschen Sonderwegs mit dem Ausstieg aus Atomkraft und Kohle zur Erreichung von mehr Schutz vor atomaren Gefahren und wichtiger Klimaziele);
• Herausforderungen durch Zuwanderung, besonders in Form hoher Immigrantenzahlen aus völlig anderen sozialen und kulturellen Lebensverhältnissen (Verteilung von Flüchtlingen in Europa, Reformen im Asylrecht, Abschiebung von nicht schutzbedürftigen Immigranten, Definition sicherer Staaten, Schließung von Grenzen bzw. schärfere Kontrollen und Rückweisungen, Kontroversen um Flüchtlingspakt mit der Türkei, Streit um die Integrationsmöglichkeiten für massenhaft zuwandernde Flüchtlinge und die Notwendigkeit der Festsetzung von Aufnahmegrenzen, Aporien mit Muslimen fundamentalistischer, radikaler, ja extremistischer oder sogar terroristischer Einstellung, Bedrohung durch Tendenzen der Ablehnung freier/demokratischer Gesellschaft durch Zuwanderungsgruppen);
• grundlegender Wertewandel in unserer Gesellschaft und Infragestellung traditioneller Ordnungen und Bindungen (z. B. Familie, Kirchen, Verbände, Gewerkschaften, politische Parteien), Zunahme von Individualismus und Pluralismus, nicht selten mit negativen Konsequenzen für die Lösung von Problemen, für gesellschaftliche Ordnungen und sozialen Zusammenhalt;
• Streit um Grundfragen unserer politischen Kultur wie beispielsweise Nation und Patriotismus, Europaidentifikation, Geschichtsbewusstsein, Formen öffentlicher Repräsentation der Politik, globale Verantwortung.
Unter den Bereichsrhetoriken werden unter dem Aspekt der Aktualität vier zentrale Agenden herausgestellt: Zuwanderung/Flüchtlinge, innere Sicherheit/Terrorismus, die Zukunft Europas, soziale Ungleichheit.