Das Gebet und andere Gedichte

Das Gebet und andere Gedichte von Barbakadse,  Dato, Lisowski,  Maja, Tsipuria,  Bela
Für Dato Barbakadse, der als Dichter sehr auf seine Ansichten und Werte achtet, bedeutete die Abgrenzung vom System den Verzicht auf den moralischen Kompromiss. /.../ Es ist schwer zu sagen, wie die Texte Dato Barbakadses den Leser hätten erreichen können, wenn es den Zerfall der Sowjetunion und die Aufhebung der gültigen sowjetischen Regulierungsformen der Kultur nicht gegeben hätte. Bela Tsipuria
Aktualisiert: 2023-05-30
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Der Tag des Menschen

Der Tag des Menschen von Guguschwili,  Badri, Lisowski,  Maja
Vorwort Am Ende der 1980er Jahren ist man in Georgien (und wahrscheinlich auch im heutigen Georgien) den meisten Menschen mit dem Wunsch, ein Dichter zu sein, mit Ironie begegnet. Das sieht heute banal aus, und keiner denkt mehr daran, dass diese Wahl damals dramatisch, oder schlimmer, tragisch hätte werden können. Aber bis dahin, nur ein paar Jahrzehnte vorher, hatte das Land jene Phase durchlebt, in der das Dichter-Sein noch mit dem Tod bestraft wurde, und in der das totalitäre System einen Dichter entweder unterwürfig machte oder ihn tötete oder ihn erst unterwürfig machte und dann tötete. Als Gegenleistung für seine Wahl erwartete auch Badri Guguschwilis der Tod: aber nicht unmittelbar durch den Staat, sondern durch seine eigene Hand, wie ein durch eine transzendentale Tragik bedingtes Schicksal seiner seelischen Suche. Seine persönlichen Erfahrungen waren damals selbstverständlich durch die Erfahrungen und die Realität des Landes noch verschärft. Als er sich am Ende der 1980er Jahre für das Dichtertum, für das Dichter-Sein entschied, bedeutete diese Entscheidung in Georgien noch immer moralische Kompromissbereitschaft oder eben Kompromisslosigkeit gegenüber dem Sowjetsystem. Aber sehr bald wurde es schon möglich, Gedichte, ohne die Erlaubnis des Staates, nicht nur zu schreiben, sondern auch zu veröffentlichen. Fast bis zum Ende der 1980er Jahre hätte sich niemand im Land vorstellen können, dass es jemanden nicht nur gelingen würde, sich Dichter zu nennen, sondern auch noch eigene Gedichte veröffentlichen konnte. Bis dahin hatte immer der Staat den Status eines Dichters vergeben und erst danach die Gesellschaft. Ein Mann, der schon Mitte dreißig war und einen handfesten Beruf als Bauingenieur hatte, und der bis dahin noch nichts nach den Sowjetregeln unternommen hatte, um den offiziellen Status eines Dichters oder irgendeine offizielle Position zu bekommen, dieser Mann konnte erst dann als Dichter vor die Gesellschaft treten und einen eigenen Gedichtband in der Hand halten, wenn er selbst dazu beitrug, das sowjetische System zu zerstören. Anfang der 1990er Jahre geschah eben dies, und Badri Guguschwili wurde Dichter. Von 1990 bis 1993 veröffentliche er fünf seiner Bücher, lebte einige Jahre als Dichter, gewann andere Dichter als Freunde und starb als Dichter, als er 1996 seinem Leben eigenhändig ein Ende setzte. Anfang der 1990er Jahre ähnelte das Leben des Dichters sehr dem, was auch Georgien während des Modernismus zwischen den Jahren 1910 - 1920 erlebt hatte, und absolut nicht mehr dem, was in den Jahrzehnten der Sowjetregierung geschah, insbesondere während Badri Guguschwilis Jugend in den 1970 - 1980er Jahren. Zu jener Zeit wurde kein Dichter mehr von Staat als Mitglied im Schriftstellerverband aufgenommen, kein Auto und keine Wohnung wurden mehr zur Verfügung gestellt, es gab auch keine regelmäßigen Buch-Veröffentlichungen mehr, es wurde nicht mehr nach einer persönlichen oder schöpferischen Aufgabe verlangt. So ein Staat, die UdSSR, existierte einfach nicht mehr. Nun steckte der neue wieder unabhängige georgische Staat, versunken im Chaos des Bürgerkriegs, ethnischer Probleme, Kriminalität, des wirtschaftlichen und energetischen Zusammenbruchs, in ganz anderen Schwierigkeiten. Für Dichter gab es da keinen Platz mehr, weder für alteingesessene noch für ganz neue. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Badri Guguschwili wie ein Dichter. Er war allein. Er hatte aber einige Dichterfreunde, die sich die gleichen Prioritäten setzten wie er. Es gab keinen, der ihm bei seinen materiellen Problemen hätte helfen können. In diesen Jahren litten alle: er, seine Freunde, sein ganzes Land. Guguschwili veröffentlichte seine Gedichte in jenen Zeitschriften und nahm an jenen Videoveranstaltungen teil, deren Gründung wenige Jahre zuvor schier unmöglich gewesen wäre: „Polylog“, „Dato Barbakadses Zeitschrift“, usw. Darüber hinaus hätte es auch keine Selbst-Veröffentlichtungen seiner Bücher gegeben. Viel wichtiger ist hingegen, mit seinen Gedichten machte er seinerseits eine bewusste Wahl in Richtung der modernen Poesie, des schöpferischen Suchens und des Wachstums und entwickelte sich dadurch zu einem professionellen Dichter. Dies geschah im Unterschied zu den anderen hunderten georgischen Poesie-Liebhabern, die ihre naiven realistisch-patriotischen Gedichte ebenfalls drucken ließen, als sie die Möglichkeit dazu bekamen und auch im Unterschied zu den anderen Dichtern seiner Zeit, die versuchten, die georgische Gesellschaft für die zeitgenössische westliche Poesie zu interessieren. Badri Guguschwili hätte jedoch weder die Mission eines Kulturträgers erfüllen können, noch hatte er dies jemals versucht, konnte aber klar und deutlich sehen, vor welcher Wahl damals ein Dichter stand, als sich die gegebenen Kulturbarrieren gerade lösten. Er ließe sich nicht als Sowjetdichter bezeichnen, nicht nach dem Begriff der politischen und sozialen Konnotationen, obwohl er im postsowjetischen Georgien oder generell in jeder Zeit, durchaus als Symbol eines siegreichen oder geschlagenen Dichters gelten könnte, der sich auf den Weg seiner seelischen oder schöpferischen Suche gemacht hatte. Badri Guguschwilis Gedichte sprechen in Georgien heutzutage jenen kleinen Kreis der Leser an, die sich für unkonventionelle Gedichte und die Existenz der Erfahrungen expressionistischer Selbstdarstellung in der georgischen Poesie interessieren. Mit der Zeit wächst auch das Interesse für die transitive Periode am Anfang der 1990er Jahre, was auch Badri Guguschwilis Poesie stärkere Aufmerksamkeit verschafft. An seine Poesie und seine Persönlichkeit erinnern sich seine Freunde, die noch heute ihr eigenes dichterisches Leben weiterleben. 2013 wurde in Tbilissi eine neue Auflage von Guguschwili „Die Königin des Fleisches“ herausgegeben. Sein Freund Dato Barbakadse, dem der Durchbruch in Westeuropa gelungen ist, hat dem deutschen POP-Verlag die Herausgabe dieser Texte empfohlen. Schließlich wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf den bekanntesten Text des Autors lenken, „Die Königin des Fleisches“, der 1993 zum ersten Mal gedruckt wurde. Hinsichtlich des Formates ähnelt der Text einem Poem. Es ist ein unkonventionelles, freies Gedicht. Dem Genre nach besitzt es einen panegyrischen, hoch pathetischen Stil und gibt die Strukturen einer Ode wieder. Der Untertitel des Poems, „Die Muse des Fleisches“ erinnert uns an die antike Tradition des Lobes einer Muse oder einer Göttin. Es ist jedoch sehr offensichtlich, dass es sich hier um einen negativen Panegyrikos handelt, der sich als Ziel gesetzt hat, jenes zu offenbaren, was er hier der Form nach lobt. Durch die gegenfunktionale Anwendung des Prinzips des klassisch-klassizistischen Poesiegenres und der dichterischen Tradition versucht er eine Annäherung an den postmodernistischen Kulturkontext zu erzeugen. Die Konflikte zwischen den seelischen und fleischlichen anatomischen Konzepten führen uns aber zu der Anerkennung des Portraits des seelischen Lebens und dementsprechend zum christlichen Kontext. In den christlichen Texten georgischer Tradition bedeutet „Fleisch“ eindeutig den physischen Körper und in der materiellen Welt mit diesem Körper ein „fleischliches“ Leben. Jesus Christus wurde durch seine Menschwerdung fleischlich, zog sich an und eignete sich zusammen mit dem Fleisch auch die menschliche Natur gänzlich an, -außer der Sünde natürlich. Bei den Menschen sind die fleischlichen Wünsche jedoch bei der Sünde geblieben: Der Fleisch gewordene Mensch wird von den fleischlichen Wünschen besiegt und lässt ihn das seelische Leben vergessen. In der christlichen Kommunikation ist das Fleisch immer das, was gegen die Seele kämpft, und die seelische Erhabenheit, Reinheit, das Erreichen des ewigen Reiches geschieht nur, wenn man auf fleischliche Wünsche, selbst auf essbares Fleisch verzichtet. Georgische hagiographische Texte lehren uns die physische Qual, das Martyrium und das Ertragen fleischlicher Schmerzen, das „Einengen des Fleisches“. Im 18. Jahrhundert verlangte schon Davit Guramischwili gemäß dem christlichen Bestreben von uns den Verzicht auf Fleisch: Denn das irdische Leben, dieser Aufenthalt ist kurz, „deshalb ist es besser, auf Fleisch zu verzichten, für die Seele zu beten, Messen für sie zu halten.“ Im 19. Jahrhundert sodann schuf Ilia Tschawtschawadse satirische Helden fleischlichen Lebens und wiederholte damit, dass „es dort, wo das Fleisch gedeiht, die Seele verkümmert!“ In Badri Guguschwilis Texten ist die ganze christliche Tradition der symbolischen Bedeutung des „Fleisches“ offensichtlich und dennoch verhüllt in der materialistischen Bedeutung dieses Wortes. Von Zeile zu Zeile ist mal die Sprache christlicher Texte zu hören, mal die rohe Alltagssprache, in der wir uns mit Fleisch sättigen, wo das Fleisch dampft und zu Hauf auf dem Tisch herumliegt, es wird von den Raubvögeln unter sich aufgeteilt. Hier bilden der christliche und der alltägliche Kontext so einem Gegensatz, wie es der christliche Glaube erlaubt. Die symbolisch-allegorische und die Alltagssprache schaffen in den Texten sowohl einen bildhaften Konflikt als auch eine kontextuelle Zustimmung, weil hier zwei Lebensarten, seelische und fleischliche, aufeinandertreffen. Der direkte und konnotierte Kontrast des „Fleisches“ verstärkt die Metapher noch mehr und bringt uns noch näher zu dem religiösen Bewusstsein: ein Mensch ist nichts anderes als Fleisch, der nur des Fleisches wegen lebt und dafür auch stirbt, „Das Fleisch stellt sich in die Reihe des Fleisches an!“ Die Königin des Fleisches ist die Herrscherin der Welt, in der sie „laut lacht“ und der Dichter weint: „Das bist du, meine Königin, die so laut grunzt, du lachst aus vollem Halse, ich sehe das und beneide dich, aus ganzem Herzen beneide ich dich, dich und nur dich, weil du lachst und ich weine!“ Die Interpretation liegt nahe, dass Badri Guguschwilis Poem seine Trauer um die Nichtigkeit des irdischen Lebens zeigt: ein Text, geschrieben am Ende des 20. Jahrhunderts nach der Ästhetik der zeitgenössischen Poesie über die Seele und das Fleisch, über das Vergängliche und das Ewige. Die Spannung wird im Text nicht dadurch aufgebaut, dass der Dichter in der zeitgenössischen Sprache die Re-Affirmation der ewigen Wahrhaftigkeit darstellt, sie immer wieder zu beweisen versucht dadurch, dass uns der zeitgenössische Dichter durch Zweifel und Schmerz zeigen möchte, wovor er selbst Angst hat: Ist vielleicht das Fleisch doch das Ewige? Ist der Kreislauf des Fleisches vielleicht die einzige Wahrheit, von der wir uns nicht loslösen können? Ist die Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau wirklich nur, dass „In der Nacht das eine Fleisch neben einem anderen schläft“? Ist denn diese Welt tatsächlich der mit Fleisch bedeckte „Schlachthof der Geschichte“? Ist vielleicht das Gesetz der materiellen Ewigkeit, also die Ewigkeit des Fleisches, hier metaphorisch dargestellt? Und ist gar das Fleisch selbst unser einziger sicherer Hafen im christlichen Sinne, wo wir unseren Anker auswerfen? Ist aus unserem Glaubenssystem nur noch das übriggeblieben, dass wir unseren Fleisch gewordenen Herrn in unsere Dienste stellten? „Wie viele haben sich denn ein einziges Lamm geteilt“? Badri Guguschwilis „Die Königin des Fleisches“ ist ein expressionistischer, kontrastreicher, konfliktbeladener Text: Er zeigt uns den Konflikt zwischen der Seele und dem Fleisch; den Konflikt eines fleischlichen Menschen mit der fleischlichen Welt, in der er eingesperrt ist. So zeigt er uns den kulturellen Konflikt, den Konflikt des Massengeschmacks des damaligen Georgiens und die Tendenz der dominanten Darstellung der unmittelbaren Vergangenheit, was die realistisch-pathetische Repräsentation georgischer Ideale bedeutete, die durch sowjetische Wirklichkeit verfälscht waren, und zu dem gleich in den ersten postsowjetischen Jahren die bis dahin tabuisierte christliche Sprache hinzukam: für die erneute Legitimation und ohne den Versuch, in die gefälschte Welt zurückzukehren. Der Text lässt uns über die kulturelle Isolation des postsowjetischen Georgiens, über den kulturellen Konflikt mit der zeitgenössischen freien Kulturwelt und natürlich über die Realität unverfälschter schöpferischer Versuche unter der Berücksichtigung der Möglichkeiten jedes Ergebnisses, jeder Niederlage und des Sieges nachdenken. Tbilissi, September 2016, Prof. Dr. Bela Tsipuria
Aktualisiert: 2023-05-30
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Das Herz

Das Herz von Barbakadse,  Dato, Breuer,  Theo, Lisowski,  Maja, Lortkipanidse,  Niko, Pop,  Traian
Wird das tiefere Verständnis zeitgenössischer Literatur nicht selbstverständlich auch durch die Kenntnis der sogenannten Klassiker der jeweiligen Literatur ermöglicht? Der Pop Verlag hat sich jedenfalls vorgenommen, der Leserschaft im deutschen Sprachraum neben ausgewählter Gegenwartsliteratur aus dem Kaukasus auch den Zugang zu klassischen Werken aus der Region zu ermöglichen und mit dieser Offenlegung der literarischen Wurzeln dem Verständnis kaukasischer Gegen- wartsliteratur auf die Sprünge zu helfen. Die Veröffentlichung der Erzählungen Niko Lortkipanidses legen ebenso wie die Publikation von Werken Egnate Ninoschwilis, Ekaterine Gabaschwilis, Lawrenti Ardasianis, Niko Lomouris, Tschola Lomtatidses und Micheil Dschawachischwilis den Grundstein für das Bemühen, nicht allein der georgischen, sondern der gesamten kaukasischen Literatur eine angemessene Plattform im deutschen Sprachraum anzubieten.
Aktualisiert: 2023-05-30
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Man spricht nicht über den Tod

Man spricht nicht über den Tod von Alexidse,  Mika, Lisowski,  Maja, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Nana Trapaidse Die Stimmen und die Leere „Womöglich ist auch der Tod bloß eine Art der Schönheit oder die Schönheit ist die Gabe eines Gemarterten, die Gabe, mit dem Tod allein zu bleiben.“ Mika Alexidse „Man spricht nicht über den Tod“ Die Sammlung der Erzählungen von Mika Alexidse wurde zum ersten Mal 1985 herausgegeben. Eine weitere folgte 1985. In den georgischen Druckmedien wurden sowohl seine Erzählungen als auch seine Gedichte regelmäßig veröffentlicht. Auch wenn Mika Alexidse zu seiner Zeit kein unbeschriebenes Blatt war, erregte seine psychologische Prosa sowohl die Gemüter der damaligen Leser als auch die seiner Kollegen. Dennoch wurde er von den georgischen Literaturkritikern der Vergessenheit ausgeliefert. Auch solche Paradoxe sind Teil georgischer Literaturgeschichte. Und so entstand bei mir beim Lesen dieser Erzählungen das Gefühl der Überraschung, so ähnlich, wie man vor etwas Großem und Unerwartetem steht: Wie ist das denn nur möglich? Ich las in der Vollkommenheit der Erzählungen Mika Alexidses die schönen und weniger schönen Geheimnisse der menschlichen Seele. Neben diesen Geheimnissen und der Schönheit der Seele auch jene Ungerechtigkeiten, in die das Schicksal der Erzählungen und auch ihres Autors verwickelt wurden. Leider blicken wir heute auf ein fünfundzwanzigjähriges Schweigen zurück, auf das Vergessenwerden, das diese seltenen Werke aus der Literaturwelt entfernt hatte. Mika Alexidses Erzählungen wurden in den 1980er-Jahren geschrieben. Das war die Zeit der historischen Bewegungen: Die Sowjetunion „veränderte sich“, nationale Bewegungen und die Zeit des gesellschaftlichen Bebens kamen auf. Damals wurden die Menschenmassen von globalen Denkströmungen so angetrieben, als würden sie in deren Willen agieren. Gerade große Ereignisse machen aus einem Menschen eine Marionette, nur so zum Vergnügen. Je stärker die Strömung und je breiter das Flussbett ist, desto größer ist die Illusion der Freiheit. Die heftigen gesellschaftlichen Aufregungen der 80er- und 90er-Jahre waren das schwere Los derer, die in diese Strömung der Zeit geraten waren, mit der gesellschaftlicher Psychose und den tragischen Folgen der Bürgerkriege. Als hätte gerade hier, in dieser nationalen Hölle das Epizentrum des menschlichen Daseins gelegen, aber hinter dem lärmenden Vorhang der Zeit zeigt der Negativ-Film der Geschichte ein anderes Bild und zwar davon, dass die wahre Wahrheit hinter den Schritten der Zeit läuft, und für diese Wahrheit gibt es keine größere Sünde und Feigheit als die blinde Kraft, mit der sich die Menschen vor verbotener Reinheit des Erwachsenseins und der Fülle schützen. In Mika Alexidses Erzählungen werden keine Geschichten erzählt. Sie werden nicht deswegen nicht erzählt, weil der Literatur der Erzählstoff ausgegangen sei, sondern hier werden die Erzählungen anders behandelt: Die Menschen in der Erzählung haben keine Geschichten. Sie selbst sind die Geschichte. Diese Erzählungen sind das Ritual jeder ihrer Bewegungen, ihrer Gestik und ihrer graziösen Traurigkeit. Sie werden im literarischen Gedächtnis der Sprache eingefangen und unsterblich gemacht. Es ist sehr schwer, das Genre dieser traurigen Erzählungen zu definieren. Hier gibt es keine Flucht oder psychologische Kämpfe. Viel mehr sind es Geschichten des Gehorsams gegenüber der Freiheit. Sie sind wie eine riesige Meuterei wegen der Missverständnisse, die manchmal im Schicksal der Menschen auftauchen und zum Kampf gegen die intakte Lage der Gerechtigkeit, Schönheit und Güte auffordern. Hier beginnt die dramatische Geschichte des Ungehorsams gegenüber der Freiheit: In der Gefängniszelle der Zeit bleibt die Liebe stets außerhalb. Das zwingt uns dazu, nicht zu kämpfen, sondern den inneren Gesetzen der Freiheit zu gehorchen, die vom Glauben begleitet werden, dass die Zeit eh von allein vorüber gehen wird, die Zeit eh den Raum verlassen wird, in den sie nicht reingehört. Die Erzählungen sind dennoch weder optimistisch noch pessimistisch. So einen Fokus der Anschauung besitzen sie nicht. Sie besitzen ihre eigene Anschauung und wenn sie irgendwohin schauen, dann wiederum in ihre eigenen Augen, aus denen die Protagonisten stets auf ihre ewige Kindheit zurückblicken. Die Wahrheit, in der die Blicke verwandter Seelen aufeinander treffen und einander erkennen, ist derart zart und hüllenlos, dass sie in der schizophrenen Agonie der nervlichen Anspannung diesen nicht existierenden Körper dennoch erschüttern kann. Ein Krieg zwischen der großen Liebe und der großen Angst bricht aus. In dem aber trotzdem der Mensch gewinnt. Das bedeutet, hier gewinnt seine Einsamkeit, diese unvollkommene Frucht der Glückseligkeit, die uns daran erinnert, dass die Liebe die Heirat des Todes und des Lebens bedeutet, dass für sie andere Eltern nur ein Surrogat sein kann. Die Erzählungen Mika Alexidses tragen etwas Unerwartetes in sich: Zwar folgen die Sujets den dramatischen Linien der Seele und des Schicksals von Protagonisten, die immanente Empfindung der Texte ist aber dennoch episch. Diese ganzen seelischen Risse und Erschütterungen, diese ganze Wahrheit über die Einheit der Welt, werden von der Erfahrung ihrer Größe und ihrer Großartigkeit gesehen. Diese ungewöhnliche Synthese zwischen der seelischen Dramaturgie und der epischen Sicht ist ein Teil der Dynamik der Syntax. Wie ein musikalisches Thema, das sich zu seinem Kontrapunkt hinarbeitet. Wenn wir der Psychologie literarischer Empfindungen folgen, so wird die wahre Literatur nicht durch ihren Inhalt, sondern durch ihre Form dargestellt. Das, was der förmliche Optimismus ist, ist schon der Glaube, und was der Inhalt ist, ist lediglich die Hoffnung. Mika Alexides Erzählungen versprechen nicht die Hoffnung, sie hoffen einfach. Deshalb ist ihre literarische Sprache darstellerisch und schauspielerisch. Sie stellen eine Art Feier der Performance dar, in der die sprachliche Handlung und die literarische Stimme sich der tiefsten und zartesten Kräfte der inneren Bewegungen, der Energie und des Gemüts bedienen. In der Komposition dieser Erzählungen sind das Erzählen und der Stoff unzertrennlich. In der thematischen Empfindung überdecken sie sich gänzlich. Beispielsweise in der Erzählung „Babuschi“ wird die Welt aus den Augen eines Zwölfjährigen gezeigt, die den Stempel des abgebrannten Hauses, des Halbwaisen und des Gefängnisses trägt. Babuschi wollte von dem abgebrannten Haus berichten, wollte jede Einzelheit erzählen, die er gesehen hatte. Im Moment konnte er sich gar nicht vorstellen, dass seine Erzählung nach einer ganz kurzen Zeit völlig an Bedeutung verlor. Das Leben, das vom Gewehrlauf abhing, zog sich in die Länge und ließ ihre Stimmen und Körper so flattern wie einen Zeitungsfetzen der Wind. Man hätte jedem von ihnen einen Namen geben können, unter anderem auch Freiheit. Deshalb wurde dieses Wort von keinem mehr erwähnt und wurde somit auch nicht mehr zum Gesprächsthema. Die Quelle ihres tiefen Bedauerns lag im verkohlten Haus von Babuschis Nachbarn und er glaubte, sie hätten unendlich darüber sprechen können. Hier aber bekam er zu hören: „Wer braucht schon ein Haus?“ und spürte, wie der Rauch, trüb und zerfetzt, mit dem Wind zusammen aufstieg und sich sehr weit mit dem Nebel mischte ... („Babuschi“) Georgien ist ein Land des Meeres und der Berge. Die westliche Grenze verläuft entlang des Schwarzen Meeres, im Norden ist das der Kaukasus, wo einst die Götter den mythischen Amiran (den griechischen Prometheus) angekettet haben sollen. Daher erscheint es mehr als selbstverständlich, dass sich die symbolische Denkweise hier durch das Meer und die Berge auf natürlichem Wege äußert. In der Literatur sind das Meer und die Berge überwiegend geografische Teile (aber keine zufälligen). Ihre konzeptuelle Verwandlung, wie es in Thomas Manns „Der Zauberberg“, Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ oder Melvilles „Moby Dick“ geschieht, ist selten in der georgischen Literatur. Hier ist die Tradition der Berge weitaus häufiger als die des Meeres. Natürlich gibt es das Meer in Galaktion Tabidses Gedichten und in Otar Tschiladses Prosa. Die Leere dieses Kontexts wird von Mika Alexidses Erzählung „Man spricht nicht über den Tod“ gefüllt, die vollkommen durch die Thematik des Meeres inspiriert worden war, genauer gesagt, durch die Mystik des Meeres und die Poesie. In Mika Alexidses Erzählungen wird die ganze Welt als ein Teil der emotionalen Empfindungen dargestellt. In diesen Empfindungen wird sie geboren und lebt weiter. Deshalb sind objektive Gegenstände, das seelische Drama und die literarische Lyrik in ihrer natürlichen Ganzheit eine ontologische Gegebenheit. Anders kann es nicht kommen. Daher wird zum Beispiel nicht zwischen der Frau und dem Meer unterschieden, als zwei Ähnlichkeiten, die sehr wertvoll sind, und in dieser Ähnlichkeit das unausweichliche Dilemma des Zweikampfes und der gegenseitigen Unterwerfung zwischen der Liebe und der Freiheit darstellen. In der poetischen Welt der Erzählungen von Mika Alexidse ist auch die Empfindung der Natur äußerst tief und neuartig. In dieser Hinsicht ist die ganze georgische Literatur sehr reich. Wir könnten sagen, dass mit dem Thema der Natur die georgische Literatur nicht nur die Erfahrungen anderer Literaturen durchgemacht, sondern auch ihre eigenen, vollkommen einzigartigen literarischen Realien geschaffen hat, die noch heute an ihrer Aktualität nichts eingebüßt haben. Sowohl die Berge, als auch das Flachland, hoch sowie niedrig, bekannt und unbekannt stehen im postkolonialen Kontext ... Neben dieser konzeptuellen Dichotomie gibt es auch einen Dialog des Menschen mit der Natur und die lyrische Tradition seiner anthroposophischen Sichtweise. Ein unverzichtbarer Bestandteil dieser Tradition sind auch die Erzählungen von Mika Alexidse. Wenn die Literatur neben all dem auch die Welt der Gedanken, Emotionen, unerwarteter Bund der Wörter und unerwartete Lage der Gegenstände ist, dann ist Mika Alexidse ein wahrer Künstler dieses Unerwarteten. In den seelischen Erfahrungen dieser unerwarteten Bündnisse liegt ihre Kraft, die den Abgrund der Welt berühren und ihr Geheimnis lüften konnte. Anders vermag es keiner, die Erotik und die entgegengesetzten Positionen der Zeit und der Leere auf so eine künstlerische Weise darzustellen, wo „Liebe“, „Geschichte“ und „Nichts“ durch ihre zusammenhängende Natur eine ambivalente Dichotomie zwischen dem Leben und dem Tod darstellt und mit einem scharfen Blick einen Bogen bis zu den Pathologien des menschlichen Schicksals spannen kann. Zum Beispiel die Politik als Pathologie, wo die gesunde Sicht von der Weltordnung getrübt wird. Hier, in diesem literarischen Zwischenkontext werden die Freude des Menschen über die Ganzheit der Welt und die Schönheit der Natur und seine schmerzhafte Trauer der leeren Realität, die gerade Kopf steht, herausgelesen. Was ist denn die Literatur, wenn nicht die Illusion der Tilgung der Grenze zur Realität. Genau gesagt, die Übersetzung der Wahrheit, die nicht verpflichtet ist, das triviale Bild der Welt direkt zu wiederholen. Deshalb ist es die Aufgabe auch der „Übersetzung“, mehr zu sein als das „Original“. Die Literaturgeschichte ist eine Geschichte dieser Pflichtkunst. In der Erzählung Mika Alexidses „ Das Festmahl des Schweigens“ ist das Schreiben ein Teil des Lebens, das selbst schon ein literarischer Akt ist. Hier ist das Schreiben weder eine Zusammenfassung noch eine Fortsetzung einer Geschichte. Sie ist vollkommen in die Gesetze des Lebens involviert: „Ich habe den Himmel schon lange nicht mehr so ruhig angeschaut. Sah ich früher hoch, so trübte er sich, brauste vor meinen Augen auf, bedeckte mich, ließ mich den Kopf verbeugen, ließ mich einem armen Stier ähnlich aussehen. Dann nahm er mich in die Finsternis mit. Dann war ich nur noch eine Handvoll dunkler Fleck. Er warf mich so erbarmungslos auf die Erde, dass ich nicht einmal aufschreien konnte. Auch ein Stier bekommt keine Gelegenheit für eine Beichte ... In dem bleifarbenen Himmel sah ich nicht die Poesie, sondern einen kleinen Fleck, der sogleich auf die Erde stürzen würde ... So begann in meiner Jugend eine harmlose Erzählung, für die ich später keine passende Überschrift finden konnte und sie dann irgendwie „Christusaugen“ nannte. Das war eine besonders kindische, naive Erzählung über einen einfachen Menschen, der nicht nur keine eigene Sünde, sondern keine eigene Hure hatte, nicht einmal für eine Nacht. Aber dennoch hörte er völlig unerwartet in der Abenddämmerung auf der Straße: „Du ähnelst Nichts mehr, mein Kind“ („Das Festmahl des Schweigens“). Danach lesen wir die schönste Poesie: Wie die Nicht-Existenz die Ephemere der Existenz hervorruft, der Tod den Mythos des Lebens, und dass letztendlich das Leben in seiner weisen Unvollkommenheit die zarten Furchen der Glückseligkeit in den Schmerz und in die Nicht-Existenz zieht. Die komplizierte Angelegenheit der Liebe, die wir in dieser Geschichte antreffen, ist das Erkennen des weltlichen Lichts von ihrer dunklen Seite her. Hier wird die ganze Welt auf den Kopf gestellt, alles bis ins kleinste Detail zerlegt, damit sie Kleinigkeit ihres Wesens jede Kleinigkeit ihrer Empfindungen übernimmt. Wie soll Musik erzählt werden? Genauso schwer ist es, die Erzählungen Mika Alexidses nachzuerzählen. Diese sollten unmittelbar erlebt werden. Und dennoch! Wovon möchten uns diese Erzählungen berichten? Wahrscheinlich davon, wie die Welt atmet, oder davon, dass die Poesie eine Arterie des Lebens darstellt, durch die das Weltleben fließt und die sinnlose Fülle des Lebens an der Seite liegen lässt. Die es vermag, trotzig und mit angehaltenem Atem weiterzufließen, damit sie irgendwo, irgendwie, in einem ganz persönlichen Schicksal der Menschen das Ewige und das Zeitweilige aufeinander treffen und sich einen lässt ...
Aktualisiert: 2023-05-30
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Solomon Isakitsch Medschghanuaschwili

Solomon Isakitsch Medschghanuaschwili von Ardasiani,  Lawrenti, Breuer,  Theo, Lisowski,  Maja, Pop,  Traian, Tsipuria,  Bela
Für das Verständnis zeitgenössischer Literatur ist es erforderlich, auch die Klassiker der jeweiligen Literatur zu kennen. Deshalb haben wir uns vorgenommen, dem deutschsprachigen Publikum neben herausragenden Gegenwartsautorinnen und -autoren aus dem Kaukasus auch eine Auswahl von Werken klassischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dieser Region zu präsentieren. Die Veröffentlichung des Romans Solomon Isakitsch Medschghanuaschwili von Lawrenti Ardasiani und bedeutender Werke von Autorinnen und Autoren wie Egnate Ninoschwili, Ekaterine Gabaschwili, Tschola Lomtatidse, Niko Lomouri und Micheil Dschawachischwili legen den Grundstein für unser Bemühen, nicht allein der georgischen, sondern der gesamten kaukasischen Literatur, die wir für bahnbrechend halten, eine Wohnstatt im deutschen Sprachraum zu bieten. Wir hoffen, mit diesen literarischen Wurzeln großer kaukasischer Literaturen insbesondere dem Verständnis unserer kaukasischen Gegenwartsautorinnen und -autoren den Weg zu bereiten. Uli Rothfuss und Traian Pop (Herausgeber der Kaukasischen Bibliothek) Lawrenti Ardasianis Tiflis vermittelt ein anschauliches Bild des urbanen Raums, wie er in der Literatur des 19. Jahrhunderts dargestellt wird. Der Tataren-Majdan als Handelsplatz vereint sämtliche – geradezu modellhaften – Charakteristika des städtischen Raums von Tiflis: Buntheit und Viel- falt, Käufer und Verkäufer, Bauern und Stadtbewohner, Fremde und Einheimische, Arme und Reiche, Gewinn und Verlust sowie – nicht zuletzt – das Glücksspiel (...) Bela Tsipuria
Aktualisiert: 2023-05-30
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Der edle Ritter unseres Landes

Der edle Ritter unseres Landes von Barbakadse,  Dato, Lisowski,  Maja, Ninoschwili,  Egnate, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli, Tsipuria,  Bela
Ein neues Leben für die Erzählungen von Egnate Ninoschwili Der Name Egnate Ninoschwili (1859-1894) ruft auch im heutigen Georgien widersprüchliche Assoziationen hervor. Dieser Zwiespalt hängt nicht so sehr von seinen literarischen Texten ab, als von dem Kontext, in dem er und seine Texte leben mussten. Dieser änderte sich mehrmals je nach geschichtlicher, politischer oder kultureller Lage Georgiens. Egnate Ninoschwili zählt zu den Autoren, deren Positionierung je nach kulturellem und politischem Kontext unterschiedlich verlief. Dementsprechend änderte sich nicht nur Ninoschwilis offizieller kultureller Status radikal, sondern auch die Beziehung des Lesers zum Autor. Solange er lebte und auch später in den 1910er-Jahren galt er als der Meister überzeugender realistischer Bilder, wurde aber nicht zu einer bedeutenden Figur der georgischen Literatur. Ende der 1910er-Jahre kam in Georgien eine gewaltige Welle der Moderne ins Rollen, die sich ihre europäischen Vertreter zum Vorbild nahm. 1918, gleich nach dem Zerfall des Russischen Imperiums, gründeten die Georgier einen souveränen Staat, die Demokratische Republik Georgiens, ganz nach dem europäischen Muster. Europäische politische Ideen: Demokratie, Republikanismus, Gleichberechtigung und Vielparteiensystem spielten bei diesem Prozess eine sehr große Rolle. Die Moderne wurde auch in Georgien sehr schnell zu einem vorherrschenden kulturellen Stil. Georgische Vertreter der Moderne sprachen in der georgischen Literaturkritik dem Erzählstil von Ninoschwili und seinem Einfluss auf den Leser eine positive Bedeutung zu. Grigol Robakidse (1882-1929) verglich sein Wort mit „Essig und Säure“. Das Bolschewistische Regime stellte Ninoschwilis Erzählungen gleich nach der Machtübernahme in Georgien (Februar, 1921) an die Spitze des georgischen Kanons und tauschte den Autor gewaltsam gegen die Vertreter der georgischen Moderne aus, gegen diejenigen, die der vorangehenden Generation angehörten und bedeutende Autoren des Realismus waren: ganz besonders gegen Ilia Tschawtschawadse (1837-1907). Ninoschwili erwies sich in der georgischen Literatur als geeignetster Autor für die Ziele der bolschewistischen kulturellen Revolution. Ein wichtiger Faktor war außerdem, dass Philipe Macharadse, ein georgischer Bolschewist und einer der Hauptakteure bei der russisch-sowjetischen Okkupation, der in den 1920er-Jahren die kulturelle Landschaft in Georgien überwachte, ausgerechnet aus dem Heimatort von Ninoschwili, aus Ozurgeti, aus der Region Guria, stammte. Hiermit begann Egnate Ninoschwilis aggressive Bekanntmachung. Anstelle der bedeutenden georgischen Autoren wurde er zu einem führenden erklärt. Schriftsteller und Kritiker aus dem Proletariat boten der georgischen Gesellschaft folgende dichotome Slogans an: „Ihr habt Ilia! Wir Egnate!“ In den 1930er-Jahren entwickelte die stalinistisch-totalitäre Kulturpolitik andere Mittel, um den sozialen Raum in die gewünschte Richtung zu lenken: dies beinhaltete nicht nur die Aneignung jener Autoren, die für die nationalen Ideale standen, in erster Linie Ilia Tschawtschawadse, sondern auch ihr Einwickeln in die sowjetische Hülle. 1932 gaben die georgischen Bolschewisten der Organisation, dem Schriftstellerverband Georgiens, der über den literarischen Raum wachen sollte, den Namen Egnate Ninoschwilis. Stalin schränkte aber sehr bald den Einfluss Philipe Macharadses ein und auch den Gebrauch des Namens von Egnate Ninoschwili. Als Schriftsteller besaß Ninoschwili den nationalen Einfluss nicht in dem Maße, mit dem er dem stalinistischen kulturellen Zwecken hätte gerecht werden können. Seine Werke durften jedoch weiterhin dem literarischen Kanon angehören. Also blieb er dort auch in der poststalinistischen Zeit, von den 1960er-Jahren bis hin zum Zerfall der Sowjetunion. Die ländliche Welt seiner bescheidenen und hoffnungslosen Erzählungen war neben dem modernen Georgien und neben den Werken der georgischen Autoren wenig beeindruckend. Seine Texte sprachen nicht die wesentlichen Fragen der damaligen Zeit an: die nationale und persönliche Souveränität und die Bündnismöglichkeit mit der freien (westlichen) Welt. Einige Erzählungen Ninoschwilis blieben noch immer Pflichtlektüre in der Schule. Diese wurden aber immer als vom Regime aufgezwungene Werke empfunden. Das erschwerte ihre realistische Wahrnehmung sehr. Seit den 1990er-Jahren, also in der postsowjetischen Periode, sofort nach der Aufhebung der sowjetischen Norm, verschwanden diese Werke sowohl aus dem Schulkanon als auch aus dem Schulcurriculum. Erst in den letzten Jahren erlangte Ninoschwili wieder die Aufmerksamkeit in den neuen Kreisen mit der westlich linken Anschauung. Die literarische Kraft und der Expressionismus der realistischen Werke Ninoschwilis spielte und spielt auch heute keine besonders bedeutende Rolle. Egnate Ninoschwilis Namen verfolgt auch heute jene ideologische Schleife, die er während der Sowjetzeit bekam: durch die Manipulation biographischer Fakten bekam die georgische Gesellschaft einen Schriftsteller präsentiert, der abgeschieden und verarmt lebte, aber im Marxismus die befreiende Kraft sah und als Vorbote der bolschewistischen Revolution dienen sollte. Das Leben und Wirken des Schriftstellers lieferte dazu ausreichend Gründe: er schrieb über soziale Probleme, über das Leben der Bauern und vor allem gehörte er zu dem kleinen Kreis der Autoren, der aus der niedrigen sozialen Schicht in die Literaturwelt aufgestiegen war. Er war in der Familie eines verarmten Bauern geboren, lebte in ärmlichen Verhältnissen, arbeitete als Dorflehrer und auch als Bauarbeiter; unter allen damaligen Schriftstellern war ausgerechnet er derjenige, der eine große Rolle bei der Verbreitung des Marxismus und der Sozialdemokratie spielte; der wesentliche und willkommene Faktor war nach russischen Bolschewisten und ihren georgischen Korrelaten dabei, dass Ninoschwilis bekannteste Texte niemals die nationalen Fragen ansprachen. Im Georgien des 19. Jahrhunderts, das zu einem Teil des russischen Imperiums geworden war, waren eben diese Fragen die wichtigsten in der Literatur. Um die Beziehung zwischen Ninischwilis Texten und seiner Biographie mit der damaligen, zeitgenössischen Gesellschaft zu verstehen, wäre es sehr wichtig, die georgische Realität und die allgemeine Stimmung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu berücksichti- gen. Georgiens Kolonialisierung durch Russland begann 1801: das Königreich von Kartl-Kachetien wurde annektiert und in das russische Imperium eingegliedert. Die jahrhundertlange königliche Dynastie der Bagratiden und die Autokephalie der georgischen orthodoxen Kirche wurden aufgehoben. In der damaligen georgischen Poesie wurde diese Kolonialisierung als ein großes nationales Trauma empfunden. Der Verlust der nationalen Souveränität und die Hoffnung auf ihre Wiederherstellung waren die wichtigsten Themen in der damaligen Literatur und Gesellschaft. Nebenbei vollzog sich die Anpassung an den russischen Verwaltungsapparat. Die georgische Poesie verinnerlichte am Anfang des 19. Jahrhunderts die Ästhetik und die Ideale der europäischen Romantik. Eine Gesellschaft nach moderner Art bildete sich heraus. Nationale Widerstandskämpfe fanden statt; Anfang der 1930er-Jahre keimten Wünsche nach der Wiederherstellung eines souveränen Staates und der Erschaffung einer Republik nach europäischem Vorbild auf. Diese kulturellen und nationalen Anstrengungen verließen jedoch nicht die elitären und adeligen Kreise Georgiens. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden diese Tendenzen noch demokratischer. Eine breite Masse der Gesellschaft machte bei den Prozessen der Europäisierung, Modernisierung und nationalen Identifizierung mit. Die Generation der 1860er-Jahre, die so genannte „Generation der Sechziger“, setzte sich unter der Leitung von Ilia Tschawtschawadse zum Ziel, die Georgier national zu vereinigen, ihre nationale Identität herauszubilden, innerhalb der Grenzen des russischen Imperiums eine imaginäre Grenze Georgiens zu ziehen. Dementsprechend existierte im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in der georgischen Gesellschaft ein quasi unabhängiger Raum. Der russische Verwaltungsapparat wurde als administrative Realität wahrgenommen, neben der den Georgiern ihre nationalen Ziele erlaubt sein sollten: die Erschaffung einer starken westlich orientierten Gesellschaft und die Vorbereitungen für die Gründung eines souveränen Staates. Die Prozesse, die von der Generation der Sechziger, unter ihnen Ilia Tschawtschawadse, angestoßen wurden, nahmen in den nächsten Jahrzehnten deutlich an Kraft zu, es entstanden georgische Druckerzeugnisse und bedeutende Texte der georgischen Literatur; das georgische Theater wurde sehr populär; durch die Arbeit der Gesellschaft für die Verbreitung der Lese- und Schreibkenntnisse gab es nun auch in den untersten Schichten Lese- und Schreibkundige; die Bildung bekam Priorität; durch private Initiativen entstanden Grund- und weiterbildende Schulen; für einen Hochschulabschluss reiste man nicht mehr nach Russland, sondern nach Europa. Das waren nicht nur Adelige, sondern auch solche jungen Leute, die wie Ninoschwili nicht aus wohlhabenden Familien stammten; die ersten politischen Ideen fanden ihren Einzug. Egnate Ninischwili betrat so eine literarische Arena. Er war Teil dieser Prozesse. Die sowjetische Literaturkritik versuchte tendenziell jene Stereotypen zu etablieren, in deren Leben es nur zwei Welten gab: ein Dorf in Guria, das in Armut versank und die Hoffnung, dieser Armut zu entkommen. Also die Entsprechung für eine neu entstandene marxistische Bewegung. Hinter dieser konstruierten Biographie war Ninoschwili noch als Publizist und Schriftsteller zu sehen. Seit Ende der 1880er-Jahre veröffentlichte er Artikel und Feuilletons in der Zeitschrift „Iweria“, deren Gründer und Herausgeber Ilia Tschawtschawadse war. Er arbeitete bei den georgischen Zeitschriften und Zeitungen: „Moambe“, „Theater“, „Kwali“ usw. Er studierte in Frankreich, in Montpellier (1886-1887), lernte Deutsch, arbeitete als Dorflehrer, als Sekretär des Herzogs von Guria, scheute sich nicht vor körperlicher Arbeit in der Landwirtschaft. Alle diese Beschäftigungen waren für Egnate Ninoschwili die Mittel, um seine Schriftstellertätigkeit zu verwirklichen. Egnate Ninoschwilis Beziehung zu der neu entstandenen marxistischen Bewegung war eine andere Frage. In den 1880er-Jahren lernten die Georgier die europäischen Ideen unmittelbar in Europa kennen und nahmen diese als Perspektiven für die russische Entkolonialisierung wahr. Das war die Fortführung der Position Ilia Tschawtschawadses und seiner Mitstreiter, nach der die georgische Gesellschaft die soziale Kultur der europäischen Gesellschaft adaptieren, sich als eine bürgerliche Gesellschaft etablieren und sich für die Befreiung von der russischen Herrschaft bereit machen sollte. Zu dieser Zeit verbreiteten sich revolutionäre, antimonarchische politische Tendenzen aus Russland, die in Wahrheit nur die Reorganisation Georgiens beabsichtigten und nicht seine Zerstörung. Die Verbreitung des Marxismus geschah in Georgien auf der Grundlage dieser zwei Tendenzen. Ende des 19. Jahrhunderts existierte hier eine radikale marxistische Gruppe, die sich um die russischen Marxisten versammelte, die aus dem russischen Zentrum im Kaukasus untergetaucht waren. Unter ihnen befand sich auch der junge Stalin. „Die Dritte Gruppe“ wurde zu einer legalen Organisation, die die Ansichten der Marxisten teilte. Sie wurde in den 1892-1893er-Jahren in Georgien zu der ersten politischen Organisation. Genau an ihrer Spitze war Egnate Ninischwili zu sehen. Zusammen mit seinen Gleichgesinnten und Freunden gehörte er 1892 zu der Initiativgruppe. Neben ihm war dort Noe Schordania, der Regierungschef des zukünftig unabhängigen Georgiens (1918-1921), der 1893 das Handlungsprogramm für „Die Dritte Partei“ erstellte. In diesem Programm standen wirtschaftliche, nationale und persönliche Ziele und auf dem europäischen Boden die „Europäisierung“ aller Georgier im Vordergrund. Die Bekanntmachung des Programms der „Dritten Gruppe“ fand am 12. Mai 1894 bei der Beerdigung Egnate Ninoschwilis, der mit 35 Jahren an Tuberkulose verstarb, in seinem Heimatdorf Tschantscheti statt. Obwohl die „Dritte Gruppe“ eine Organisation war, die durch marxistische Ideen inspiriert worden war (10 Jahre nach der Gründung wird sie in den Kaukasischen Verbund der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beitreten), entwickelte sie sich in Wirklichkeit zu der menschewistischen Kraft, die später an der Spitze des unabhängigen Georgiens stehen wird, und nicht zu einer bolschewistischen Macht, die durch die Annektierung Georgiens an die Herrschaft gekommen war (die dann die menschewistische Regierung Georgiens stürzte). Die Menschewiken und die Bolschewiken, dieser zwei Fraktionen einer sozialdemokratischen Partei, verband weder in Russland noch in Georgien ihre Gleichgesinnung oder ihre Zusammenarbeit miteinander. Nach der Sowjetisierung Georgiens ging die menschewistische Regierung ins französische Exil. Alle, die mit den Menschewiken zu tun hatten und geblieben waren, fielen in Georgien den anschließenden sowjetischen Repressalien zum Opfer. Egnate Ninoschwili wurde zum Vorreiter der bolschewistischen Bewegung und des sowjetischen Georgiens erklärt. Das war ein weiteres Beispiel, wie das Regime die Geschichte und Kultur beeinflusste, um einer sowjetischen Literatur in Georgien das Leben einzuhauchen. Mit der Aneignung dieser Figur nahm die sowjetische Ideologie dem georgischen Leser die Möglichkeit der wahren, objektiven Wahrnehmung der Werke dieses Schriftstellers. Egnate Ninoschwili schrieb seine Werke in den letzten sieben Jahren seines Lebens. Sie wurden in den Druckmedien sowohl während seines Lebens als auch nach seinem Tod veröffentlicht. Das wies auf die Bedeutung seiner Texte unter den Lesern hin; noch bevor sich das sowjetische System seine Werke aneignete und mit seiner erzwungenen Bekanntmachung begann. Ninoschwilis Werke enthalten den Roman „Aufstand in Guria“, und um die zehn längere Erzählungen, deren Protagonisten für den georgischen Leser sehr bekannt sind. Sie hinterlassen einen bleibenden Eindruck und erwecken Mitgefühl. Sowohl der Roman als auch einige seiner Erzählungen wurden schon in den 1920-1930er-Jahren in Georgien verfilmt. Der erste georgische Kinofilm „Christine“ wurde nach dem gleichnamigen Roman Egnate Ninoschwilis in den 1916-1918er-Jahren gedreht. Der Produzent war Germane Gogotadse und der Regisseur Aleksandre Tsutsunawa. Christines Gesicht, eine Bauernfrau, die von einem Adeligen vergewaltigt wird, die wegen des sozialen Drucks aus dem Heimatdorf fliehen muss und in Tiflis zu einer Prostituierten wird, bewegte nicht nur den georgischen Leser sehr, sondern auch allgemein die Kunst. Der Maler Lado Gudiaschwili erschuf eine moderne Interpretation Christines: „Am Stadtrand (Christine)“ (1917-1919). Das Gemälde ist heute in der Dimitri-Schewardnadse-Nationalgalerie ausgestellt. Solche Probleme, wie: die Schutzlosigkeit einer Frau gegenüber sozialen Vorurteilen, das Elternhaus, als der Raum ihres Gehorsams und der Kultivierung gegenüber den sozialen Klischees, der Kontrast zwischen Stadt und Land, das Ignorieren der Identität des Einzelnen von der urbanen Welt, die Objektivierung der Frau, machen Ninoschwilis Erzählung unglaublich emotional und regen den Leser zum Nachdenken an. So wurde er im modernen Georgien wahrgenommen und wirkt auch heute spannend und zeitgenössisch. In der Sowjetzeit wurde dieser Text keineswegs hochgeschätzt. Damals waren für die Ideologie überwiegend solche Erzählungen von Bedeutung, die das Schicksal eines verzweifelten und unglücklichen Bauern darstellten. Die sowjetischen Kritiker mussten eigens die Position zum bäuerlichen Leben erschaffen. Zwar war die Arbeiterklasse die treibende Kraft des Bolschewismus, aber da in Ninoschwilis Erzählungen das qualvolle Leben der untersten Schicht der Bauernschaft geschildert wurde, diente auch dieses gut, um dadurch die Kritik am Zarentum zu verstärken und die Notwendigkeit der bolschewistischen Revolution in den Vordergrund zu stellen. In Wirklichkeit war die Kritik des Zarentums nie das Thema von Ninoschwilis Erzählungen. Das entsprach aber jener Dimension, in der die sowjetische Literaturkritik jeden beliebigen vorrevolutionären Text präsentieren konnte. Das war der Blick auf den historischen Fortschritt, auf die sowjetische, historische Dialektik: Bei der Beschreibung der Vergangenheit war es möglich, sogar den russischen Aggressor im negativen Licht zu zeigen, aber nur unter dem Vorbehalt, dass er zum zaristischen Regime gehörte und nach der bolschewistischen Revolution ausgerottet sein würde. In der georgischen Literatur, und auch bei Egnate Ninoschwili, war die reale Wahrnehmung der Probleme weder mit dem Zarentum noch mit der russischen Kolonialisierung verbunden. In der Erzählung Ninoschwilis, „Gogia Uischwili“ (1889) wird dieses als gegeben vorausgesetzt, keiner kann sich dagegen wehren und keiner kann es ändern: „Die ganze Welt wird geknechtet und ins Verderben getrieben“. Ende der 1880er- und Anfang der 1890er-Jahre, in denen Ninoschwilis Erzählungen geschrieben wurden, war das russische Imperium und sein georgischer Teil, die Gouvernements von Tiflis und Kutaisi und der Bezirk von Batumi, jene Regionen, die nach wirtschaftlichem und kulturellem Fortschritt strebten. Nachdem in Russland die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, begann in den 1864er-Jahren auch hier die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft. Natürlich gab es noch die Schicht der verarmten Bauern und Adeligen (Ninoschwili war ihr Verteidiger), aber die Aufmerksamkeit der georgischen Gesellschaft galt nicht ausschließlich diesen bäuerlichen Problemen. Im Gegenteil: die georgischen Druckmedien und auch die georgische Literatur unterhielt sich mit dem Leser über die nationale Konsolidierung, über die kulturelle Kommunikation mit Europa und über die Zukunftsziele der Georgier. Über die Frage der Bauern hatten sich die georgischen Schriftsteller nicht nur Gedanken gemacht, sondern mit ihren Problemen auch tatsächlich beschäftigt: Ilia Tschawtschawadse war erst der Vermittler in den ersten Jahrzehnten der Bauernreform und später auch der Schiedsrichter. Diese Problematik beschrieb er auch in seinen Prosawerken. In den 1870-1880er-Jahren beschäftigte sich damit eine kleine Gruppe der Schriftsteller, die „georgischen Volksvertreter“. In der georgischen Presse werden Artikel über das Landleben veröffentlicht, aber weder damals noch in den 1890er-Jahren stand dieses Thema im Mittelpunkt des georgischen gesellschaftlichen Diskurses. Damals entsprach das eher dem Diskurs der Moderne, der sich an nationalem Fortschritt, Modernisierung und Europäisierung orientierte. Tiflis wurde zum Zentrum der gesamten kaukasischen Verwaltung, Kultur und Wirtschaft. In Westgeorgien entwickelten sich neben der Hauptstadt des Gouvernements Kutaisi auch die Hafenstädte Batumi und Poti weiter. Sie waren Transitstädte für die westliche Wirtschaft und für das Mineralöl aus Baku. Die Dörfer von Guria lagen in unmittelbarer Nähe. Nichtsdestotrotz waren die Dörfer, in denen Ninoschwili seinen literarischen Schauplatz schuf, irgendwie isoliert, nicht nur von der ganzen restlichen Welt, sondern auch von den georgischen Städten und dem sozialen Raum. In der Erzählung „Der See von Paliastomi“ (1891) wird Poti zwar als eine Stadt, in der die Gurier Handel treiben und Geschäfte machen, erwähnt, wird aber gleich gesagt, dass der Eintritt dorthin und der Transportweg dorthin für sie sehr gefährlich ist, eben wegen dieses „schrecklichen“ Sees. Das geographische Hindernis des Sees wird in Ninoschwilis Erzählung zu einem symbolischen Hindernis, das die Isolation und die Abgeschiedenheit der Dorfbewohner in Gurien verursacht. Deshalb nimmt der Bauer, der beim Schriftsteller verallgemeinernd für alle seine Protagonisten steht, die Welt, die außerhalb seines Dorfes liegt, fast gar nicht wahr. Seine ganze Erwartung von der Welt ist, dass seine kleine Familie das Recht auf das Leben, die Existenz und den Lebensunterhalt hat. Bemerkenswert ist auch, dass diese Grundbedürfnisse auch das Recht auf die Liebe und das Recht auf den Erhalt der Menschenwürde beinhalten. Gogia Uischwili, einer der bekanntesten Helden in Egnate Ninoschwilis Erzählungen, verzichtet auf das Leben, nachdem eben diese Menschenwürde verletzt wird. Ein Bauer, der keine harte Arbeit scheut, um seine Familie zu ernähren, begegnet einer Welt so, wie sie auch tatsächlich existiert: mit seiner Armut, einem Stückchen Land, mit wenig Ernte, die durch harte Arbeit erzielt wird, mit überhöhten Abgaben und Strafmaßnamen durch die russische imperialistische Armee (Exekution). Dieser Bauer glaubt fest daran, dass er und seine Familie das Anrecht auf das Neujahrsfest und auf die damit verbundene Freude haben. Er hat das Recht auf eine Feier. Dies beinhaltet die Vorbereitung von besonderen Gerichten, die feierliche Stimmung, die spielenden Kinder. Wahrscheinlich ist das für Gogia die einzige Brücke, die ihn mit der Tradition verbindet, sich als ein Individuum fühlen und ihn sein menschliches Dasein empfinden lässt. Für Gogia und seine Frau Marine heißt es zugleich das Recht auf eine bessere Zukunft. Dieses „süße Leben“ und der morgige Tag sind in ihren Vorstellungen etwas fröhlicher und satter als der heutige. Diese Erneuerung kann in der gegebenen geschlossenen Welt entstehen, in der Fortsetzung des gegebenen einfachen Lebens. Dabei macht es nichts aus, dass sie das Leben Gogia Uischwilis, seiner Frau und ihrer fünf Kinder nicht wesentlich verändern würde: die Hoffnung auf ein besseres Leben wird beim Empfinden der Feierlichkeiten geboren, d.h. das Recht auf eine Feier gleicht damit dem Recht auf Menschenwürde. Das Verletzen dieses Rechts ist hiermit das Verletzen der Menschenwürde. Nachdem sich die Straf- einheit der russischen Armee im Dorf niederlässt, um die Dorfbewohner zu kontrollieren und sie gegebenenfalls zu bestrafen, da sie einem Gesetzlosen Obdach gewähren, ist Gogia bereit, noch zusätzlich zu arbeiten und die Gebühr der Exekution zu zahlen. Da er diese Abgaben doch nicht leisten kann, wird ihm der Lebensmittelvorrat, der für die Feiertage bestimmt war, weggenommen. Weil er Widerstand leistet, wird er dem Verwalter vorgeführt. Er wird ausgepeitscht. Gogia denkt nun, dass seine Lebenskraft aufgebraucht ist. Die Grenze des freudlosen Daseins, worüber er sich vor seinem Tod beschwert, stellt für ihn das Verletzten seiner Würde und das Auspeitschen dar. Er begeht den Selbstmord sehr bewusst, nachdem er die ganze Nacht darüber nachgedacht hatte, und mit der Erkenntnis der Schuld: da er es nicht mehr ertragen kann, nicht mehr hinnehmen kann, beschließt er zu fliehen. Er ist ein Verräter. In seinem Monolog vor dem unmittelbaren Tod, so wie in den meisten Höhepunkten in Ninoschwilis Erzählungen, erreicht die Tragik jene Qualität, jene Kraft an emotionalen Impulsen, die den Erzählungen die Überlebenskraft verleihen. In den Erzählungen Ninoschwilis sind die Klarheit und die Zielstrebigkeit der Erzählaufgabe so gegeben, dass der Autor den Leser dorthin auf dem direkten Weg und ohne Umschweife bringt. Den Höhepunkt der Erzählungen stellt jedes Mal der Tod dar. Das, was nach diesem Höhepunkt übrig bleibt, ist: die Verwüstung. Bei allen Werken ist das Ende tragisch. Die Erzählung „Der See von Paliastomi“ (1891) wird mit der Absicht geschrieben, um den Untergang zweier Helden darzustellen. Das ist die einzige Handlung, die in diesem Text erzählt wird. Im Unterschied zu anderen Texten Ninoschwilis wird hier dem historischen und sozial-ökonomischen Kontext soviel Aufmerksamkeit gewidmet, dass dieser Ausschnitt für einen gewissen publizistischen Essay gehalten werden könnte; erst danach ist der Schriftsteller mit der Beschreibung des tödlichen Weges seiner Helden beschäftigt. Die Geschichte des berühmten Holzfällers Iwane und seines Sohnes Niko ist sehr tragisch: obwohl sie fleißig und ehrlich arbeiten, können sie dem Schicksalsschlag nicht entkommen; während des Transports der gefällten Bäume lauert der Tod im See von Paliastomi auf sie. Das Leben sowohl des Vaters als auch des Sohnes, ihre Hoffnungen, ihre Leichen gehen in diesem Wasser unter. Die Beschreibung des Todes dient dem Ziel des Erzählens, so erschafft ein realistischer Schriftsteller die Poetik des Todes. In vielen Erzählungen folgt dem Tod des Helden auch der Tod der Familienangehörigen und die Verwüstung von deren Hab und Gut. So ist es auch in der Erzählung „Gogia Uischwili“; obwohl hier im Epilog die Hoffnung aufkeimt, als der Sohn nach Jahren beginnt, das Elternhaus wieder aufzubauen (gefolgt von nicht so hoffnungsvollem Kommentar des Autors). In einer Erzählung, die einige Jahre später geschrieben wurde, wird alles so zerstört, dass nur noch eins übrig bleibt: die Verwüstung. Der Held der gleichnamigen Erzählung (1892), seine Familie und sein Gehöft sind so heruntergekommen, dass es am Ende weder Überlebende noch Hoffnung gibt. Genau das bedeutet das georgische Wort für „Verwüstung“. Die materielle Armut, die den bäuerlichen Hintergrund voraussetzt, ist mit der Bitterkeit seiner Darstellung verbunden. Die Bitterkeit wird durch den Gehorsam gegenüber jenen sozialen Vorurteilen verursacht, die in der mikrosozialen Welt des Dorfes beheimatet sind. Wenn Egnate Ninoschwili uns einen seiner Helden vorstellt, fügt er immer einen Kommentar hinzu, wie diese Person von der Dorfgemeinschaft und von jedem Einzelnen wahrgenommen wird. Dieses literarische Mittel ist nicht nur von der Seite der Erzählperspektive interessant, sondern zeigt auch die Bedeutung der Ansichten des Einzelnen in jener Welt, die der Autor beschreibt. Die Protagonisten handeln und entscheiden oft, um der Kritik dieser Gemeinschaft zu entgehen. So ist es auch in „Die Verwüstung“ und in „Christine“. Natürlich ist die Anständigkeit einer Frau in dieser Gemeinschaft eines der standhaften Modelle. Seine Verteidigung hat die Aufopferung des Individuums als Preis. Die Helden akzeptieren die sozialen Vorurteile ohne Kritik und ohne Widerstand. Auf diese Weise zeigt uns der Schriftsteller seine kritische Position gegenüber diesen Stereotypen. Die Wahrnehmung der Welt bei den Bauern von Egnate Ninoschwili kennt nicht die moderne Welt, die rationale Sichtweise, das Wissen, den Fortschritt, die urbane Welt (selbst Christine, eine der wenigen Ausnahmen der Helden, die sich in Tiflis niederlässt, kann bei ihren Ansichten die Grenzen ihres Dorfes nicht verlassen). Ninoschwilis Bauer ist kein Kind der modernen Zeit, als könnte er nicht weitsichtig genug sein, vielleicht, weil seine Wahrnehmung so einfach und primitiv ist. Selten entsteht eine Frage gegenüber der Welt, und wenn doch, dann blitzen diese Fragen sehr schwach auf, und der Held weiß schon von vorherein, dass er keine Antworten bekommen wird; die Welt der Erkenntnis oder des Glaubens öffnet sich nicht für ihn, und er sieht diese nicht einmal; seine Wünsche und Bedürfnisse gegenüber dem Leben sind so spärlich, wie die vorherbestimmte Wirklichkeit, die ihm das Leben bietet; er verlangt gehorsam und genügsam von der Welt das Recht, in diesem geschlossenen Raum zu existieren. Die Werke Egante Ninoschwilis erzählen uns genau von jener Verantwortung, die in einer Gesellschaft auch gerade für diese rechtsbedürftigen Menschen existieren sollte. Wieso wählte der Schriftsteller diesen Weg, wieso ließ er viele aktuellere Themen unbeachtet, wieso setzte er sich zum Ziel, jene Stimme der Bauern zu werden, die, zu seinem Lebzeiten, in seiner Heimat, in seinem Dorf, keine Stimme hatten? Zur Metapher eines stimmlosen und stummen Menschen wird bei Egnate Ninoschwili Kazia Mundshadse (Stumm) in der Erzählung „Verfügung“ (1893). Ninoschwili sucht die Namen für seine Helden nach einem einfachen literarischen Stil. Der Held Kazia ist stumm, im übertragenen Sinne dieses Wortes. Er folgt den Anordnungen des Verwalters sogar dann ohne Widerspruch, als er körperlich vollkommen erschöpft ist: er übernimmt die Nachtschicht im Bahnhof; wartet auf das Erscheinen des Zuges (damit das Vieh in der Zeit nicht die Gleise überquert und dadurch eine Zugkatastrophe heraufbeschwört; so einen Fall hat es schon mal gegeben, und wenn ein „hohes Tier“ mit dem Zug reist, ist der Verwalter besonders aufmerksam); der müde Kazia möchte ein Nickerchen machen und legt den Kopf auf die Gleise, damit er den annähernden Zug nicht überhören kann; am nächsten Morgen findet der Bahnhofswächter eine kopflose Leichen an den Bahngleisen. Dieses Bild mit seiner wortlosen Tragik ist die Metapher für jene ausweglose Situation, in der sich die Welt Egnate Ninoschwilis und die Menschen, die in dieser geschlossenen Welt leben, geraten sind. Der Zug, der auf „glitzernden“, leuchtenden Gleisen gleitet, kann als Metapher für den Fortschritt verstanden werden, der seinen eigenen Weg folgt und den nichts aufhalten kann. Ihm gegenüber hat ein Mann, der dem Schicksal ergeben dient und sich nicht wehrt, keine Chance. Wir könnten annehmen, dass der Zug für Egnate Ninoschwili eine Art Agent der elitären Welt ist, der in marginale Welten eindringt und diese zerstört. Der Schriftsteller will uns weder als Gegner dieses Fortschritts erscheinen noch als Verteidiger des dörflichen Stillstands. Er möchte uns einfach zeigen, dass es zu seiner Zeit neben der schnellen und eiligen Welt auch eine in sich geschlossene, stillstehende und hoffnungslose Welt gibt. Trägt die moderne Realität, die auf der Idee des Fortschritts basiert, irgendeine Verantwortung gegenüber dieser ausgelieferten Realität? Egnate Ninoschwili als Schriftsteller beschreibt, urteilt und analysiert in seinen Texten nicht die dynamische moderne Welt, die schon sehr viel Kraft außerhalb seiner Heimat besitzt und auch hier an Bedeutung gewinnt; er lernt diese selbst kennen und wird auch selber ein Teil davon. Der Schriftsteller versucht nicht, das bäuerliche Dasein und das einfache Dorfleben zu idealisieren, er sagt nicht, „bei ihnen tobt das Leben“ (das sagte Ilia Tschawtschawadse über sie); seine Poetik ist nicht auf der Gegensätzlichkeit des städtischen Chaos und des ländlichen Ideals gebaut (das machen später die Vertreter der georgischen Moderne). Der Schriftsteller beschreibt diese einfache und hoffnungslose Welt irgendwie ohne Emotionen und macht sie zur Aufgabe seines Schaffens. Wenn in den 1910er-Jahren die Vertreter der georgischen Moderne erschüttert sind, weil Émil Verhaeren „den Tod der alten Welt beweint“ (T. Tabidse), ist in den Erzählungen Ninoschwilis so ein Klagen und Weinen, das Ende der vertrauten, kleinen Welt ein zentrales Thema und könnte zur Poetik der Empfindung des Weltuntergangs verallgemeinert werden. Unter diesem Aspekt könnten wir Egnate Ninoschwili doch dem Kontext seiner zeitgenössischen westlichen Literatur zuordnen, genauso wie die anderen georgischen Autoren, die sich ein paar Jahre nach dem Entstehen dieser Erzählungen genau denselben Kontext zum Ziel setzen werden. Bela Tsipuria
Aktualisiert: 2023-05-30
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Das Herz

Das Herz von Barbakadse,  Dato, Breuer,  Theo, Lisowski,  Maja, Lortkipanidse,  Niko, Pop,  Traian
Wird das tiefere Verständnis zeitgenössischer Literatur nicht selbstverständlich auch durch die Kenntnis der sogenannten Klassiker der jeweiligen Literatur ermöglicht? Der Pop Verlag hat sich jedenfalls vorgenommen, der Leserschaft im deutschen Sprachraum neben ausgewählter Gegenwartsliteratur aus dem Kaukasus auch den Zugang zu klassischen Werken aus der Region zu ermöglichen und mit dieser Offenlegung der literarischen Wurzeln dem Verständnis kaukasischer Gegen- wartsliteratur auf die Sprünge zu helfen. Die Veröffentlichung der Erzählungen Niko Lortkipanidses legen ebenso wie die Publikation von Werken Egnate Ninoschwilis, Ekaterine Gabaschwilis, Lawrenti Ardasianis, Niko Lomouris, Tschola Lomtatidses und Micheil Dschawachischwilis den Grundstein für das Bemühen, nicht allein der georgischen, sondern der gesamten kaukasischen Literatur eine angemessene Plattform im deutschen Sprachraum anzubieten.
Aktualisiert: 2022-01-13
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Solomon Isakitsch Medschghanuaschwili

Solomon Isakitsch Medschghanuaschwili von Ardasiani,  Lawrenti, Breuer,  Theo, Lisowski,  Maja, Pop,  Traian, Tsipuria,  Bela
Für das Verständnis zeitgenössischer Literatur ist es erforderlich, auch die Klassiker der jeweiligen Literatur zu kennen. Deshalb haben wir uns vorgenommen, dem deutschsprachigen Publikum neben herausragenden Gegenwartsautorinnen und -autoren aus dem Kaukasus auch eine Auswahl von Werken klassischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dieser Region zu präsentieren. Die Veröffentlichung des Romans Solomon Isakitsch Medschghanuaschwili von Lawrenti Ardasiani und bedeutender Werke von Autorinnen und Autoren wie Egnate Ninoschwili, Ekaterine Gabaschwili, Tschola Lomtatidse, Niko Lomouri und Micheil Dschawachischwili legen den Grundstein für unser Bemühen, nicht allein der georgischen, sondern der gesamten kaukasischen Literatur, die wir für bahnbrechend halten, eine Wohnstatt im deutschen Sprachraum zu bieten. Wir hoffen, mit diesen literarischen Wurzeln großer kaukasischer Literaturen insbesondere dem Verständnis unserer kaukasischen Gegenwartsautorinnen und -autoren den Weg zu bereiten. Uli Rothfuss und Traian Pop (Herausgeber der Kaukasischen Bibliothek) Lawrenti Ardasianis Tiflis vermittelt ein anschauliches Bild des urbanen Raums, wie er in der Literatur des 19. Jahrhunderts dargestellt wird. Der Tataren-Majdan als Handelsplatz vereint sämtliche – geradezu modellhaften – Charakteristika des städtischen Raums von Tiflis: Buntheit und Viel- falt, Käufer und Verkäufer, Bauern und Stadtbewohner, Fremde und Einheimische, Arme und Reiche, Gewinn und Verlust sowie – nicht zuletzt – das Glücksspiel (...) Bela Tsipuria
Aktualisiert: 2022-01-13
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Der edle Ritter unseres Landes

Der edle Ritter unseres Landes von Barbakadse,  Dato, Lisowski,  Maja, Ninoschwili,  Egnate, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli, Tsipuria,  Bela
Ein neues Leben für die Erzählungen von Egnate Ninoschwili Der Name Egnate Ninoschwili (1859-1894) ruft auch im heutigen Georgien widersprüchliche Assoziationen hervor. Dieser Zwiespalt hängt nicht so sehr von seinen literarischen Texten ab, als von dem Kontext, in dem er und seine Texte leben mussten. Dieser änderte sich mehrmals je nach geschichtlicher, politischer oder kultureller Lage Georgiens. Egnate Ninoschwili zählt zu den Autoren, deren Positionierung je nach kulturellem und politischem Kontext unterschiedlich verlief. Dementsprechend änderte sich nicht nur Ninoschwilis offizieller kultureller Status radikal, sondern auch die Beziehung des Lesers zum Autor. Solange er lebte und auch später in den 1910er-Jahren galt er als der Meister überzeugender realistischer Bilder, wurde aber nicht zu einer bedeutenden Figur der georgischen Literatur. Ende der 1910er-Jahre kam in Georgien eine gewaltige Welle der Moderne ins Rollen, die sich ihre europäischen Vertreter zum Vorbild nahm. 1918, gleich nach dem Zerfall des Russischen Imperiums, gründeten die Georgier einen souveränen Staat, die Demokratische Republik Georgiens, ganz nach dem europäischen Muster. Europäische politische Ideen: Demokratie, Republikanismus, Gleichberechtigung und Vielparteiensystem spielten bei diesem Prozess eine sehr große Rolle. Die Moderne wurde auch in Georgien sehr schnell zu einem vorherrschenden kulturellen Stil. Georgische Vertreter der Moderne sprachen in der georgischen Literaturkritik dem Erzählstil von Ninoschwili und seinem Einfluss auf den Leser eine positive Bedeutung zu. Grigol Robakidse (1882-1929) verglich sein Wort mit „Essig und Säure“. Das Bolschewistische Regime stellte Ninoschwilis Erzählungen gleich nach der Machtübernahme in Georgien (Februar, 1921) an die Spitze des georgischen Kanons und tauschte den Autor gewaltsam gegen die Vertreter der georgischen Moderne aus, gegen diejenigen, die der vorangehenden Generation angehörten und bedeutende Autoren des Realismus waren: ganz besonders gegen Ilia Tschawtschawadse (1837-1907). Ninoschwili erwies sich in der georgischen Literatur als geeignetster Autor für die Ziele der bolschewistischen kulturellen Revolution. Ein wichtiger Faktor war außerdem, dass Philipe Macharadse, ein georgischer Bolschewist und einer der Hauptakteure bei der russisch-sowjetischen Okkupation, der in den 1920er-Jahren die kulturelle Landschaft in Georgien überwachte, ausgerechnet aus dem Heimatort von Ninoschwili, aus Ozurgeti, aus der Region Guria, stammte. Hiermit begann Egnate Ninoschwilis aggressive Bekanntmachung. Anstelle der bedeutenden georgischen Autoren wurde er zu einem führenden erklärt. Schriftsteller und Kritiker aus dem Proletariat boten der georgischen Gesellschaft folgende dichotome Slogans an: „Ihr habt Ilia! Wir Egnate!“ In den 1930er-Jahren entwickelte die stalinistisch-totalitäre Kulturpolitik andere Mittel, um den sozialen Raum in die gewünschte Richtung zu lenken: dies beinhaltete nicht nur die Aneignung jener Autoren, die für die nationalen Ideale standen, in erster Linie Ilia Tschawtschawadse, sondern auch ihr Einwickeln in die sowjetische Hülle. 1932 gaben die georgischen Bolschewisten der Organisation, dem Schriftstellerverband Georgiens, der über den literarischen Raum wachen sollte, den Namen Egnate Ninoschwilis. Stalin schränkte aber sehr bald den Einfluss Philipe Macharadses ein und auch den Gebrauch des Namens von Egnate Ninoschwili. Als Schriftsteller besaß Ninoschwili den nationalen Einfluss nicht in dem Maße, mit dem er dem stalinistischen kulturellen Zwecken hätte gerecht werden können. Seine Werke durften jedoch weiterhin dem literarischen Kanon angehören. Also blieb er dort auch in der poststalinistischen Zeit, von den 1960er-Jahren bis hin zum Zerfall der Sowjetunion. Die ländliche Welt seiner bescheidenen und hoffnungslosen Erzählungen war neben dem modernen Georgien und neben den Werken der georgischen Autoren wenig beeindruckend. Seine Texte sprachen nicht die wesentlichen Fragen der damaligen Zeit an: die nationale und persönliche Souveränität und die Bündnismöglichkeit mit der freien (westlichen) Welt. Einige Erzählungen Ninoschwilis blieben noch immer Pflichtlektüre in der Schule. Diese wurden aber immer als vom Regime aufgezwungene Werke empfunden. Das erschwerte ihre realistische Wahrnehmung sehr. Seit den 1990er-Jahren, also in der postsowjetischen Periode, sofort nach der Aufhebung der sowjetischen Norm, verschwanden diese Werke sowohl aus dem Schulkanon als auch aus dem Schulcurriculum. Erst in den letzten Jahren erlangte Ninoschwili wieder die Aufmerksamkeit in den neuen Kreisen mit der westlich linken Anschauung. Die literarische Kraft und der Expressionismus der realistischen Werke Ninoschwilis spielte und spielt auch heute keine besonders bedeutende Rolle. Egnate Ninoschwilis Namen verfolgt auch heute jene ideologische Schleife, die er während der Sowjetzeit bekam: durch die Manipulation biographischer Fakten bekam die georgische Gesellschaft einen Schriftsteller präsentiert, der abgeschieden und verarmt lebte, aber im Marxismus die befreiende Kraft sah und als Vorbote der bolschewistischen Revolution dienen sollte. Das Leben und Wirken des Schriftstellers lieferte dazu ausreichend Gründe: er schrieb über soziale Probleme, über das Leben der Bauern und vor allem gehörte er zu dem kleinen Kreis der Autoren, der aus der niedrigen sozialen Schicht in die Literaturwelt aufgestiegen war. Er war in der Familie eines verarmten Bauern geboren, lebte in ärmlichen Verhältnissen, arbeitete als Dorflehrer und auch als Bauarbeiter; unter allen damaligen Schriftstellern war ausgerechnet er derjenige, der eine große Rolle bei der Verbreitung des Marxismus und der Sozialdemokratie spielte; der wesentliche und willkommene Faktor war nach russischen Bolschewisten und ihren georgischen Korrelaten dabei, dass Ninoschwilis bekannteste Texte niemals die nationalen Fragen ansprachen. Im Georgien des 19. Jahrhunderts, das zu einem Teil des russischen Imperiums geworden war, waren eben diese Fragen die wichtigsten in der Literatur. Um die Beziehung zwischen Ninischwilis Texten und seiner Biographie mit der damaligen, zeitgenössischen Gesellschaft zu verstehen, wäre es sehr wichtig, die georgische Realität und die allgemeine Stimmung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu berücksichti- gen. Georgiens Kolonialisierung durch Russland begann 1801: das Königreich von Kartl-Kachetien wurde annektiert und in das russische Imperium eingegliedert. Die jahrhundertlange königliche Dynastie der Bagratiden und die Autokephalie der georgischen orthodoxen Kirche wurden aufgehoben. In der damaligen georgischen Poesie wurde diese Kolonialisierung als ein großes nationales Trauma empfunden. Der Verlust der nationalen Souveränität und die Hoffnung auf ihre Wiederherstellung waren die wichtigsten Themen in der damaligen Literatur und Gesellschaft. Nebenbei vollzog sich die Anpassung an den russischen Verwaltungsapparat. Die georgische Poesie verinnerlichte am Anfang des 19. Jahrhunderts die Ästhetik und die Ideale der europäischen Romantik. Eine Gesellschaft nach moderner Art bildete sich heraus. Nationale Widerstandskämpfe fanden statt; Anfang der 1930er-Jahre keimten Wünsche nach der Wiederherstellung eines souveränen Staates und der Erschaffung einer Republik nach europäischem Vorbild auf. Diese kulturellen und nationalen Anstrengungen verließen jedoch nicht die elitären und adeligen Kreise Georgiens. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden diese Tendenzen noch demokratischer. Eine breite Masse der Gesellschaft machte bei den Prozessen der Europäisierung, Modernisierung und nationalen Identifizierung mit. Die Generation der 1860er-Jahre, die so genannte „Generation der Sechziger“, setzte sich unter der Leitung von Ilia Tschawtschawadse zum Ziel, die Georgier national zu vereinigen, ihre nationale Identität herauszubilden, innerhalb der Grenzen des russischen Imperiums eine imaginäre Grenze Georgiens zu ziehen. Dementsprechend existierte im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in der georgischen Gesellschaft ein quasi unabhängiger Raum. Der russische Verwaltungsapparat wurde als administrative Realität wahrgenommen, neben der den Georgiern ihre nationalen Ziele erlaubt sein sollten: die Erschaffung einer starken westlich orientierten Gesellschaft und die Vorbereitungen für die Gründung eines souveränen Staates. Die Prozesse, die von der Generation der Sechziger, unter ihnen Ilia Tschawtschawadse, angestoßen wurden, nahmen in den nächsten Jahrzehnten deutlich an Kraft zu, es entstanden georgische Druckerzeugnisse und bedeutende Texte der georgischen Literatur; das georgische Theater wurde sehr populär; durch die Arbeit der Gesellschaft für die Verbreitung der Lese- und Schreibkenntnisse gab es nun auch in den untersten Schichten Lese- und Schreibkundige; die Bildung bekam Priorität; durch private Initiativen entstanden Grund- und weiterbildende Schulen; für einen Hochschulabschluss reiste man nicht mehr nach Russland, sondern nach Europa. Das waren nicht nur Adelige, sondern auch solche jungen Leute, die wie Ninoschwili nicht aus wohlhabenden Familien stammten; die ersten politischen Ideen fanden ihren Einzug. Egnate Ninischwili betrat so eine literarische Arena. Er war Teil dieser Prozesse. Die sowjetische Literaturkritik versuchte tendenziell jene Stereotypen zu etablieren, in deren Leben es nur zwei Welten gab: ein Dorf in Guria, das in Armut versank und die Hoffnung, dieser Armut zu entkommen. Also die Entsprechung für eine neu entstandene marxistische Bewegung. Hinter dieser konstruierten Biographie war Ninoschwili noch als Publizist und Schriftsteller zu sehen. Seit Ende der 1880er-Jahre veröffentlichte er Artikel und Feuilletons in der Zeitschrift „Iweria“, deren Gründer und Herausgeber Ilia Tschawtschawadse war. Er arbeitete bei den georgischen Zeitschriften und Zeitungen: „Moambe“, „Theater“, „Kwali“ usw. Er studierte in Frankreich, in Montpellier (1886-1887), lernte Deutsch, arbeitete als Dorflehrer, als Sekretär des Herzogs von Guria, scheute sich nicht vor körperlicher Arbeit in der Landwirtschaft. Alle diese Beschäftigungen waren für Egnate Ninoschwili die Mittel, um seine Schriftstellertätigkeit zu verwirklichen. Egnate Ninoschwilis Beziehung zu der neu entstandenen marxistischen Bewegung war eine andere Frage. In den 1880er-Jahren lernten die Georgier die europäischen Ideen unmittelbar in Europa kennen und nahmen diese als Perspektiven für die russische Entkolonialisierung wahr. Das war die Fortführung der Position Ilia Tschawtschawadses und seiner Mitstreiter, nach der die georgische Gesellschaft die soziale Kultur der europäischen Gesellschaft adaptieren, sich als eine bürgerliche Gesellschaft etablieren und sich für die Befreiung von der russischen Herrschaft bereit machen sollte. Zu dieser Zeit verbreiteten sich revolutionäre, antimonarchische politische Tendenzen aus Russland, die in Wahrheit nur die Reorganisation Georgiens beabsichtigten und nicht seine Zerstörung. Die Verbreitung des Marxismus geschah in Georgien auf der Grundlage dieser zwei Tendenzen. Ende des 19. Jahrhunderts existierte hier eine radikale marxistische Gruppe, die sich um die russischen Marxisten versammelte, die aus dem russischen Zentrum im Kaukasus untergetaucht waren. Unter ihnen befand sich auch der junge Stalin. „Die Dritte Gruppe“ wurde zu einer legalen Organisation, die die Ansichten der Marxisten teilte. Sie wurde in den 1892-1893er-Jahren in Georgien zu der ersten politischen Organisation. Genau an ihrer Spitze war Egnate Ninischwili zu sehen. Zusammen mit seinen Gleichgesinnten und Freunden gehörte er 1892 zu der Initiativgruppe. Neben ihm war dort Noe Schordania, der Regierungschef des zukünftig unabhängigen Georgiens (1918-1921), der 1893 das Handlungsprogramm für „Die Dritte Partei“ erstellte. In diesem Programm standen wirtschaftliche, nationale und persönliche Ziele und auf dem europäischen Boden die „Europäisierung“ aller Georgier im Vordergrund. Die Bekanntmachung des Programms der „Dritten Gruppe“ fand am 12. Mai 1894 bei der Beerdigung Egnate Ninoschwilis, der mit 35 Jahren an Tuberkulose verstarb, in seinem Heimatdorf Tschantscheti statt. Obwohl die „Dritte Gruppe“ eine Organisation war, die durch marxistische Ideen inspiriert worden war (10 Jahre nach der Gründung wird sie in den Kaukasischen Verbund der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei beitreten), entwickelte sie sich in Wirklichkeit zu der menschewistischen Kraft, die später an der Spitze des unabhängigen Georgiens stehen wird, und nicht zu einer bolschewistischen Macht, die durch die Annektierung Georgiens an die Herrschaft gekommen war (die dann die menschewistische Regierung Georgiens stürzte). Die Menschewiken und die Bolschewiken, dieser zwei Fraktionen einer sozialdemokratischen Partei, verband weder in Russland noch in Georgien ihre Gleichgesinnung oder ihre Zusammenarbeit miteinander. Nach der Sowjetisierung Georgiens ging die menschewistische Regierung ins französische Exil. Alle, die mit den Menschewiken zu tun hatten und geblieben waren, fielen in Georgien den anschließenden sowjetischen Repressalien zum Opfer. Egnate Ninoschwili wurde zum Vorreiter der bolschewistischen Bewegung und des sowjetischen Georgiens erklärt. Das war ein weiteres Beispiel, wie das Regime die Geschichte und Kultur beeinflusste, um einer sowjetischen Literatur in Georgien das Leben einzuhauchen. Mit der Aneignung dieser Figur nahm die sowjetische Ideologie dem georgischen Leser die Möglichkeit der wahren, objektiven Wahrnehmung der Werke dieses Schriftstellers. Egnate Ninoschwili schrieb seine Werke in den letzten sieben Jahren seines Lebens. Sie wurden in den Druckmedien sowohl während seines Lebens als auch nach seinem Tod veröffentlicht. Das wies auf die Bedeutung seiner Texte unter den Lesern hin; noch bevor sich das sowjetische System seine Werke aneignete und mit seiner erzwungenen Bekanntmachung begann. Ninoschwilis Werke enthalten den Roman „Aufstand in Guria“, und um die zehn längere Erzählungen, deren Protagonisten für den georgischen Leser sehr bekannt sind. Sie hinterlassen einen bleibenden Eindruck und erwecken Mitgefühl. Sowohl der Roman als auch einige seiner Erzählungen wurden schon in den 1920-1930er-Jahren in Georgien verfilmt. Der erste georgische Kinofilm „Christine“ wurde nach dem gleichnamigen Roman Egnate Ninoschwilis in den 1916-1918er-Jahren gedreht. Der Produzent war Germane Gogotadse und der Regisseur Aleksandre Tsutsunawa. Christines Gesicht, eine Bauernfrau, die von einem Adeligen vergewaltigt wird, die wegen des sozialen Drucks aus dem Heimatdorf fliehen muss und in Tiflis zu einer Prostituierten wird, bewegte nicht nur den georgischen Leser sehr, sondern auch allgemein die Kunst. Der Maler Lado Gudiaschwili erschuf eine moderne Interpretation Christines: „Am Stadtrand (Christine)“ (1917-1919). Das Gemälde ist heute in der Dimitri-Schewardnadse-Nationalgalerie ausgestellt. Solche Probleme, wie: die Schutzlosigkeit einer Frau gegenüber sozialen Vorurteilen, das Elternhaus, als der Raum ihres Gehorsams und der Kultivierung gegenüber den sozialen Klischees, der Kontrast zwischen Stadt und Land, das Ignorieren der Identität des Einzelnen von der urbanen Welt, die Objektivierung der Frau, machen Ninoschwilis Erzählung unglaublich emotional und regen den Leser zum Nachdenken an. So wurde er im modernen Georgien wahrgenommen und wirkt auch heute spannend und zeitgenössisch. In der Sowjetzeit wurde dieser Text keineswegs hochgeschätzt. Damals waren für die Ideologie überwiegend solche Erzählungen von Bedeutung, die das Schicksal eines verzweifelten und unglücklichen Bauern darstellten. Die sowjetischen Kritiker mussten eigens die Position zum bäuerlichen Leben erschaffen. Zwar war die Arbeiterklasse die treibende Kraft des Bolschewismus, aber da in Ninoschwilis Erzählungen das qualvolle Leben der untersten Schicht der Bauernschaft geschildert wurde, diente auch dieses gut, um dadurch die Kritik am Zarentum zu verstärken und die Notwendigkeit der bolschewistischen Revolution in den Vordergrund zu stellen. In Wirklichkeit war die Kritik des Zarentums nie das Thema von Ninoschwilis Erzählungen. Das entsprach aber jener Dimension, in der die sowjetische Literaturkritik jeden beliebigen vorrevolutionären Text präsentieren konnte. Das war der Blick auf den historischen Fortschritt, auf die sowjetische, historische Dialektik: Bei der Beschreibung der Vergangenheit war es möglich, sogar den russischen Aggressor im negativen Licht zu zeigen, aber nur unter dem Vorbehalt, dass er zum zaristischen Regime gehörte und nach der bolschewistischen Revolution ausgerottet sein würde. In der georgischen Literatur, und auch bei Egnate Ninoschwili, war die reale Wahrnehmung der Probleme weder mit dem Zarentum noch mit der russischen Kolonialisierung verbunden. In der Erzählung Ninoschwilis, „Gogia Uischwili“ (1889) wird dieses als gegeben vorausgesetzt, keiner kann sich dagegen wehren und keiner kann es ändern: „Die ganze Welt wird geknechtet und ins Verderben getrieben“. Ende der 1880er- und Anfang der 1890er-Jahre, in denen Ninoschwilis Erzählungen geschrieben wurden, war das russische Imperium und sein georgischer Teil, die Gouvernements von Tiflis und Kutaisi und der Bezirk von Batumi, jene Regionen, die nach wirtschaftlichem und kulturellem Fortschritt strebten. Nachdem in Russland die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, begann in den 1864er-Jahren auch hier die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft. Natürlich gab es noch die Schicht der verarmten Bauern und Adeligen (Ninoschwili war ihr Verteidiger), aber die Aufmerksamkeit der georgischen Gesellschaft galt nicht ausschließlich diesen bäuerlichen Problemen. Im Gegenteil: die georgischen Druckmedien und auch die georgische Literatur unterhielt sich mit dem Leser über die nationale Konsolidierung, über die kulturelle Kommunikation mit Europa und über die Zukunftsziele der Georgier. Über die Frage der Bauern hatten sich die georgischen Schriftsteller nicht nur Gedanken gemacht, sondern mit ihren Problemen auch tatsächlich beschäftigt: Ilia Tschawtschawadse war erst der Vermittler in den ersten Jahrzehnten der Bauernreform und später auch der Schiedsrichter. Diese Problematik beschrieb er auch in seinen Prosawerken. In den 1870-1880er-Jahren beschäftigte sich damit eine kleine Gruppe der Schriftsteller, die „georgischen Volksvertreter“. In der georgischen Presse werden Artikel über das Landleben veröffentlicht, aber weder damals noch in den 1890er-Jahren stand dieses Thema im Mittelpunkt des georgischen gesellschaftlichen Diskurses. Damals entsprach das eher dem Diskurs der Moderne, der sich an nationalem Fortschritt, Modernisierung und Europäisierung orientierte. Tiflis wurde zum Zentrum der gesamten kaukasischen Verwaltung, Kultur und Wirtschaft. In Westgeorgien entwickelten sich neben der Hauptstadt des Gouvernements Kutaisi auch die Hafenstädte Batumi und Poti weiter. Sie waren Transitstädte für die westliche Wirtschaft und für das Mineralöl aus Baku. Die Dörfer von Guria lagen in unmittelbarer Nähe. Nichtsdestotrotz waren die Dörfer, in denen Ninoschwili seinen literarischen Schauplatz schuf, irgendwie isoliert, nicht nur von der ganzen restlichen Welt, sondern auch von den georgischen Städten und dem sozialen Raum. In der Erzählung „Der See von Paliastomi“ (1891) wird Poti zwar als eine Stadt, in der die Gurier Handel treiben und Geschäfte machen, erwähnt, wird aber gleich gesagt, dass der Eintritt dorthin und der Transportweg dorthin für sie sehr gefährlich ist, eben wegen dieses „schrecklichen“ Sees. Das geographische Hindernis des Sees wird in Ninoschwilis Erzählung zu einem symbolischen Hindernis, das die Isolation und die Abgeschiedenheit der Dorfbewohner in Gurien verursacht. Deshalb nimmt der Bauer, der beim Schriftsteller verallgemeinernd für alle seine Protagonisten steht, die Welt, die außerhalb seines Dorfes liegt, fast gar nicht wahr. Seine ganze Erwartung von der Welt ist, dass seine kleine Familie das Recht auf das Leben, die Existenz und den Lebensunterhalt hat. Bemerkenswert ist auch, dass diese Grundbedürfnisse auch das Recht auf die Liebe und das Recht auf den Erhalt der Menschenwürde beinhalten. Gogia Uischwili, einer der bekanntesten Helden in Egnate Ninoschwilis Erzählungen, verzichtet auf das Leben, nachdem eben diese Menschenwürde verletzt wird. Ein Bauer, der keine harte Arbeit scheut, um seine Familie zu ernähren, begegnet einer Welt so, wie sie auch tatsächlich existiert: mit seiner Armut, einem Stückchen Land, mit wenig Ernte, die durch harte Arbeit erzielt wird, mit überhöhten Abgaben und Strafmaßnamen durch die russische imperialistische Armee (Exekution). Dieser Bauer glaubt fest daran, dass er und seine Familie das Anrecht auf das Neujahrsfest und auf die damit verbundene Freude haben. Er hat das Recht auf eine Feier. Dies beinhaltet die Vorbereitung von besonderen Gerichten, die feierliche Stimmung, die spielenden Kinder. Wahrscheinlich ist das für Gogia die einzige Brücke, die ihn mit der Tradition verbindet, sich als ein Individuum fühlen und ihn sein menschliches Dasein empfinden lässt. Für Gogia und seine Frau Marine heißt es zugleich das Recht auf eine bessere Zukunft. Dieses „süße Leben“ und der morgige Tag sind in ihren Vorstellungen etwas fröhlicher und satter als der heutige. Diese Erneuerung kann in der gegebenen geschlossenen Welt entstehen, in der Fortsetzung des gegebenen einfachen Lebens. Dabei macht es nichts aus, dass sie das Leben Gogia Uischwilis, seiner Frau und ihrer fünf Kinder nicht wesentlich verändern würde: die Hoffnung auf ein besseres Leben wird beim Empfinden der Feierlichkeiten geboren, d.h. das Recht auf eine Feier gleicht damit dem Recht auf Menschenwürde. Das Verletzen dieses Rechts ist hiermit das Verletzen der Menschenwürde. Nachdem sich die Straf- einheit der russischen Armee im Dorf niederlässt, um die Dorfbewohner zu kontrollieren und sie gegebenenfalls zu bestrafen, da sie einem Gesetzlosen Obdach gewähren, ist Gogia bereit, noch zusätzlich zu arbeiten und die Gebühr der Exekution zu zahlen. Da er diese Abgaben doch nicht leisten kann, wird ihm der Lebensmittelvorrat, der für die Feiertage bestimmt war, weggenommen. Weil er Widerstand leistet, wird er dem Verwalter vorgeführt. Er wird ausgepeitscht. Gogia denkt nun, dass seine Lebenskraft aufgebraucht ist. Die Grenze des freudlosen Daseins, worüber er sich vor seinem Tod beschwert, stellt für ihn das Verletzten seiner Würde und das Auspeitschen dar. Er begeht den Selbstmord sehr bewusst, nachdem er die ganze Nacht darüber nachgedacht hatte, und mit der Erkenntnis der Schuld: da er es nicht mehr ertragen kann, nicht mehr hinnehmen kann, beschließt er zu fliehen. Er ist ein Verräter. In seinem Monolog vor dem unmittelbaren Tod, so wie in den meisten Höhepunkten in Ninoschwilis Erzählungen, erreicht die Tragik jene Qualität, jene Kraft an emotionalen Impulsen, die den Erzählungen die Überlebenskraft verleihen. In den Erzählungen Ninoschwilis sind die Klarheit und die Zielstrebigkeit der Erzählaufgabe so gegeben, dass der Autor den Leser dorthin auf dem direkten Weg und ohne Umschweife bringt. Den Höhepunkt der Erzählungen stellt jedes Mal der Tod dar. Das, was nach diesem Höhepunkt übrig bleibt, ist: die Verwüstung. Bei allen Werken ist das Ende tragisch. Die Erzählung „Der See von Paliastomi“ (1891) wird mit der Absicht geschrieben, um den Untergang zweier Helden darzustellen. Das ist die einzige Handlung, die in diesem Text erzählt wird. Im Unterschied zu anderen Texten Ninoschwilis wird hier dem historischen und sozial-ökonomischen Kontext soviel Aufmerksamkeit gewidmet, dass dieser Ausschnitt für einen gewissen publizistischen Essay gehalten werden könnte; erst danach ist der Schriftsteller mit der Beschreibung des tödlichen Weges seiner Helden beschäftigt. Die Geschichte des berühmten Holzfällers Iwane und seines Sohnes Niko ist sehr tragisch: obwohl sie fleißig und ehrlich arbeiten, können sie dem Schicksalsschlag nicht entkommen; während des Transports der gefällten Bäume lauert der Tod im See von Paliastomi auf sie. Das Leben sowohl des Vaters als auch des Sohnes, ihre Hoffnungen, ihre Leichen gehen in diesem Wasser unter. Die Beschreibung des Todes dient dem Ziel des Erzählens, so erschafft ein realistischer Schriftsteller die Poetik des Todes. In vielen Erzählungen folgt dem Tod des Helden auch der Tod der Familienangehörigen und die Verwüstung von deren Hab und Gut. So ist es auch in der Erzählung „Gogia Uischwili“; obwohl hier im Epilog die Hoffnung aufkeimt, als der Sohn nach Jahren beginnt, das Elternhaus wieder aufzubauen (gefolgt von nicht so hoffnungsvollem Kommentar des Autors). In einer Erzählung, die einige Jahre später geschrieben wurde, wird alles so zerstört, dass nur noch eins übrig bleibt: die Verwüstung. Der Held der gleichnamigen Erzählung (1892), seine Familie und sein Gehöft sind so heruntergekommen, dass es am Ende weder Überlebende noch Hoffnung gibt. Genau das bedeutet das georgische Wort für „Verwüstung“. Die materielle Armut, die den bäuerlichen Hintergrund voraussetzt, ist mit der Bitterkeit seiner Darstellung verbunden. Die Bitterkeit wird durch den Gehorsam gegenüber jenen sozialen Vorurteilen verursacht, die in der mikrosozialen Welt des Dorfes beheimatet sind. Wenn Egnate Ninoschwili uns einen seiner Helden vorstellt, fügt er immer einen Kommentar hinzu, wie diese Person von der Dorfgemeinschaft und von jedem Einzelnen wahrgenommen wird. Dieses literarische Mittel ist nicht nur von der Seite der Erzählperspektive interessant, sondern zeigt auch die Bedeutung der Ansichten des Einzelnen in jener Welt, die der Autor beschreibt. Die Protagonisten handeln und entscheiden oft, um der Kritik dieser Gemeinschaft zu entgehen. So ist es auch in „Die Verwüstung“ und in „Christine“. Natürlich ist die Anständigkeit einer Frau in dieser Gemeinschaft eines der standhaften Modelle. Seine Verteidigung hat die Aufopferung des Individuums als Preis. Die Helden akzeptieren die sozialen Vorurteile ohne Kritik und ohne Widerstand. Auf diese Weise zeigt uns der Schriftsteller seine kritische Position gegenüber diesen Stereotypen. Die Wahrnehmung der Welt bei den Bauern von Egnate Ninoschwili kennt nicht die moderne Welt, die rationale Sichtweise, das Wissen, den Fortschritt, die urbane Welt (selbst Christine, eine der wenigen Ausnahmen der Helden, die sich in Tiflis niederlässt, kann bei ihren Ansichten die Grenzen ihres Dorfes nicht verlassen). Ninoschwilis Bauer ist kein Kind der modernen Zeit, als könnte er nicht weitsichtig genug sein, vielleicht, weil seine Wahrnehmung so einfach und primitiv ist. Selten entsteht eine Frage gegenüber der Welt, und wenn doch, dann blitzen diese Fragen sehr schwach auf, und der Held weiß schon von vorherein, dass er keine Antworten bekommen wird; die Welt der Erkenntnis oder des Glaubens öffnet sich nicht für ihn, und er sieht diese nicht einmal; seine Wünsche und Bedürfnisse gegenüber dem Leben sind so spärlich, wie die vorherbestimmte Wirklichkeit, die ihm das Leben bietet; er verlangt gehorsam und genügsam von der Welt das Recht, in diesem geschlossenen Raum zu existieren. Die Werke Egante Ninoschwilis erzählen uns genau von jener Verantwortung, die in einer Gesellschaft auch gerade für diese rechtsbedürftigen Menschen existieren sollte. Wieso wählte der Schriftsteller diesen Weg, wieso ließ er viele aktuellere Themen unbeachtet, wieso setzte er sich zum Ziel, jene Stimme der Bauern zu werden, die, zu seinem Lebzeiten, in seiner Heimat, in seinem Dorf, keine Stimme hatten? Zur Metapher eines stimmlosen und stummen Menschen wird bei Egnate Ninoschwili Kazia Mundshadse (Stumm) in der Erzählung „Verfügung“ (1893). Ninoschwili sucht die Namen für seine Helden nach einem einfachen literarischen Stil. Der Held Kazia ist stumm, im übertragenen Sinne dieses Wortes. Er folgt den Anordnungen des Verwalters sogar dann ohne Widerspruch, als er körperlich vollkommen erschöpft ist: er übernimmt die Nachtschicht im Bahnhof; wartet auf das Erscheinen des Zuges (damit das Vieh in der Zeit nicht die Gleise überquert und dadurch eine Zugkatastrophe heraufbeschwört; so einen Fall hat es schon mal gegeben, und wenn ein „hohes Tier“ mit dem Zug reist, ist der Verwalter besonders aufmerksam); der müde Kazia möchte ein Nickerchen machen und legt den Kopf auf die Gleise, damit er den annähernden Zug nicht überhören kann; am nächsten Morgen findet der Bahnhofswächter eine kopflose Leichen an den Bahngleisen. Dieses Bild mit seiner wortlosen Tragik ist die Metapher für jene ausweglose Situation, in der sich die Welt Egnate Ninoschwilis und die Menschen, die in dieser geschlossenen Welt leben, geraten sind. Der Zug, der auf „glitzernden“, leuchtenden Gleisen gleitet, kann als Metapher für den Fortschritt verstanden werden, der seinen eigenen Weg folgt und den nichts aufhalten kann. Ihm gegenüber hat ein Mann, der dem Schicksal ergeben dient und sich nicht wehrt, keine Chance. Wir könnten annehmen, dass der Zug für Egnate Ninoschwili eine Art Agent der elitären Welt ist, der in marginale Welten eindringt und diese zerstört. Der Schriftsteller will uns weder als Gegner dieses Fortschritts erscheinen noch als Verteidiger des dörflichen Stillstands. Er möchte uns einfach zeigen, dass es zu seiner Zeit neben der schnellen und eiligen Welt auch eine in sich geschlossene, stillstehende und hoffnungslose Welt gibt. Trägt die moderne Realität, die auf der Idee des Fortschritts basiert, irgendeine Verantwortung gegenüber dieser ausgelieferten Realität? Egnate Ninoschwili als Schriftsteller beschreibt, urteilt und analysiert in seinen Texten nicht die dynamische moderne Welt, die schon sehr viel Kraft außerhalb seiner Heimat besitzt und auch hier an Bedeutung gewinnt; er lernt diese selbst kennen und wird auch selber ein Teil davon. Der Schriftsteller versucht nicht, das bäuerliche Dasein und das einfache Dorfleben zu idealisieren, er sagt nicht, „bei ihnen tobt das Leben“ (das sagte Ilia Tschawtschawadse über sie); seine Poetik ist nicht auf der Gegensätzlichkeit des städtischen Chaos und des ländlichen Ideals gebaut (das machen später die Vertreter der georgischen Moderne). Der Schriftsteller beschreibt diese einfache und hoffnungslose Welt irgendwie ohne Emotionen und macht sie zur Aufgabe seines Schaffens. Wenn in den 1910er-Jahren die Vertreter der georgischen Moderne erschüttert sind, weil Émil Verhaeren „den Tod der alten Welt beweint“ (T. Tabidse), ist in den Erzählungen Ninoschwilis so ein Klagen und Weinen, das Ende der vertrauten, kleinen Welt ein zentrales Thema und könnte zur Poetik der Empfindung des Weltuntergangs verallgemeinert werden. Unter diesem Aspekt könnten wir Egnate Ninoschwili doch dem Kontext seiner zeitgenössischen westlichen Literatur zuordnen, genauso wie die anderen georgischen Autoren, die sich ein paar Jahre nach dem Entstehen dieser Erzählungen genau denselben Kontext zum Ziel setzen werden. Bela Tsipuria
Aktualisiert: 2021-08-05
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Und so weiter

Und so weiter von Barbakadse,  Dato, Barkaia,  Beka, Breuer,  Theo, Lisowski,  Maja, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Der erste Haiku-Zyklus – Vogel, Wind, Zweig – erschien erstmals im Sommer 2018 in der georgischen Literaturzeitschrift Akhali Saundsche. Als Autor firmierte der – unbekannte – japanische Dichter Akira Mikito, dessen Porträtfoto im bibliographischen Anhang abgedruckt war. (...) Erst im Sommer 2019, beim Internationalen Literaturfestival in Tbilissi, ließ Dato Barbakadse die Katze höchstpersönlich aus dem Sack. Ein Teil der Liebhaber der Dichtkunst äußerte sogleich den Verdacht, der Dichter, der für komplizierte intellektuelle Spiele bekannt war, wolle durch diese öffentliche Demystifizierung eine neue Mystifizierung schaffen. Barbakadse verneinte dies kategorisch. (...) Dem Leser liegen in diesem Buch also nicht Sonett-, sondern (sieben) Haiku-Kränze vor. Diese Kränze folgen dem Prinzip Vom Einfachen zum Komplizierten. Dato Barbakadse erklärt in einem Manifest: Das Dilemma der Wahrnehmung von Lyrik im 21. Jahrhundert ist nicht etwa durch komplexe inhaltlich-formale Strukturen bedingt, sondern durch die Armut an Mechanismen, anhand derer Leser die Gedichte wahrnehmen. Dies wird wiederum durch die Intensivierung der Konsumhaltung zur Lyrik hervorgerufen.
Aktualisiert: 2021-03-04
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Wenn das Lied sich vom ermüdeten Körper befreit.

Wenn das Lied sich vom ermüdeten Körper befreit. von Barbakadse,  Dato, Chotiwari,  Artschil, Chotiwari-Jünger ,  Steffi, Crauss., Gehrisch,  Peter, Ledebur,  Benedikt, Lisowski,  Maja, Rothfuss,  Uli, Traian,  Pop
Das Curriculum Vitae des Dichters, der 1966 in Tiflis zur Welt kommt, kann ... Aufschlussreiches vermitteln. Nach der Schule erlernt Barbakadse das Schlosserhandwerk und ist auf diese Weise mit Statik und Mechanik der Metalle befasst, ein Arbeitsgebiet, das ihm eine Basis realen Daseins vermittelt. Noch als Sowjetbürger leistet er zwei Jahre lang seinen Militärdienst (d.h. Unterordnung und Brüte-Station für den eingeschlossenen Geist), dann folgt das Studium der Philosophie, Soziologie und der Alten Geschichte. Der Versuch der Kommunikation mit seinesgleichen, die – selbstredend – seinesgleichen nicht sind, gestaltet sich als weniger lenkbar. So nämlich erfährt er sich als Outcast, entfernt sich für einige Zeit von Haus und Heim, gelangt 2002 nach Deutschland und gründet 2005 das Buchreihenprojekt Öster- reichische Lyrik des 20. Jahrhunderts, dessen Leitung er über- nimmt. Damit stellen sich für Barbakadse (der die wissenschaftliche Laufbahn zugunsten der Dichtung verließ) denkbare Positionen zum Zwiegespräch ein. Peter Gehrisch
Aktualisiert: 2018-11-01
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Die elektrischen Glühbirnen

Die elektrischen Glühbirnen von Brôcan,  Jürgen, Buatchidze,  Andro, Güzel,  Lütfiye, Iatashvil,  Shota, Katscharava,  Karlo, Kunkel,  Ivette Vivien, Likokeli,  Lia, Liparteliani,  Maia, Lisowski,  Maja, Nakhutsrishvili,  Gaga, Shamanadze,  Shorena, Tabukashvili,  Maia, Thenior,  Ralf
Die vorliegenden Gedichte führen in eine uns unbekannte Gedicht¬landschaft. Wobei die ursprüngliche Konstellation der Teil-nehmer auf georgischer Seite sich im Verlauf der Projekt¬planung und -or¬ga¬nisation noch einmal änderte. Dato Barbakadze konnte aus Zeit¬gründen nicht teilnehmen und Lia Sturua hatte inzwischen, was mich einerseits traurig machte, andererseits riesig für sie freute, einen Verleger gefunden, der einen eigenen Band mit Gedichten von ihr herausbringen wollte. – Bitte, meine Damen und Herren, lesen Sie die Gedichte von Lia Sturua. Sie werden begeistert sein. Die Gedichte von Andro Buatchidze sind Nachrichten aus den Armenvierteln der Toten. Was die Lebenden mit einschließt. Sein langes, großartiges Gedicht „An Freunde, die die Grenzen des Lebens überschritten“ ist ein bewegendes Requiem, ein durch die dunklen Straßen der Erinnerung irrlichterndes Kaddish eines Dichters, der in einem zerfallenden Land lebt und nicht nur die Erinnerung an die Verstorbenen wachhält und beklagt, sondern auch den Tod im Leben der Zeitgenossen. Der Dichter Shota Iatashvili ist ein „Schlitzohr“. Bei ihm ist die Einsamkeit nur eine Art Grundierung für seine spöttischen und iro¬nischen Bilder und Kommentare. Er macht sich über Geld lustig, über Kleidungsstücke und Dichter im einundzwanzigsten Jahr¬hun-dert. Er beherrscht die Kunst, über Ernsthaftes Witze zu machen, ohne die Ernsthaftigkeit zu verraten. Besonders bezau¬bernd in dem Gedicht „Der Beistift in der Erde“, in dem ein Bleistift zu Grabe getragen und ein Handstock zerbrochen wird, um ein Kreuz zu formen, das mit den grauen Haaren des Dichters zusammenge-bunden auf das Grab des toten Bleistifts gepflanzt wird. Dies bezieht sich auf die Legende von der heiligen Nino, die im siebten Jahrhundert das Christentum nach Georgien brachte. Da sie so arm war, dass sie kein Kreuz besaß, brach sie Weinreben und fügte sie mit ihrem eigenen schwarzen Haar zu einem Kreuz zusammen. Lia Likokeli ist eine Dichterin, die in ihren Gedichten ins Surreale ausfliegt und dabei die Bodenhaftung nicht verliert. Es bleibt etwas Beklemmendes in ihren Gedichten. Fast echomäßig an manche Bilder von Leonora Carrington erinnernd, beschreibt sie Familien-situationen. Erwartungen, Verhaltensweisen, und immer wieder große Einsamkeiten inmitten des Familienverbands. Hier verändert sich etwas in Georgien. Lia Likokeli hat, zumindest unter den jüngeren Menschen, ein großes Publikum, sagte man mir voller Hochachtung im Georgian National Book Center, und ich kann mir vorstellen, warum. Gaga ist mir als Dichter nahe. Er ist Realist. Sein poetisches Schrei-ben ist eine Auseinandersetzung mit den Dingen als notwendiges Element des Lebendigseins. In vielen seiner Gedichte (u.a. in „Gott und wir“) finde ich eine erfrischend diesseitige, unpathetische Position, die jede Metaphysik ablehnt und bei allem Dreck, in dem die Menschheit watet, den blühenden Akazienbaum nicht aus dem Auge verliert. Und außerdem hat er ein fragendes Kind an Bord, was mich freut. Bei meiner Lektüre, bei Notizen zu seinen Gedich-ten, in der gedanklichen Auseinandersetzung tauchte immer wieder ein Bild vor meinem inneren Auge auf, das übersetzt etwa lauten könnte: Hier spricht ein fernöstlicher Weiser. Woraufhin ich mich korrigierte: Hier spricht ein Weiser aus Osteuropa. Vier Stimmen, vier poetologische Ansätze, vier Weisen, die Welt zu verstehen; dass wir sie hören können, verdanken wir vielen Freun-dinnen und Freunden der Poesie, die mit Rat und Tat geholfen haben, dieses Projekt lebendig werden zu lassen.
Aktualisiert: 2020-08-17
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Das Gebet und andere Gedichte

Das Gebet und andere Gedichte von Barbakadse,  Dato, Lisowski,  Maja, Tsipuria,  Bela
Für Dato Barbakadse, der als Dichter sehr auf seine Ansichten und Werte achtet, bedeutete die Abgrenzung vom System den Verzicht auf den moralischen Kompromiss. /.../ Es ist schwer zu sagen, wie die Texte Dato Barbakadses den Leser hätten erreichen können, wenn es den Zerfall der Sowjetunion und die Aufhebung der gültigen sowjetischen Regulierungsformen der Kultur nicht gegeben hätte. Bela Tsipuria
Aktualisiert: 2018-11-01
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Man spricht nicht über den Tod

Man spricht nicht über den Tod von Alexidse,  Mika, Lisowski,  Maja, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Nana Trapaidse Die Stimmen und die Leere „Womöglich ist auch der Tod bloß eine Art der Schönheit oder die Schönheit ist die Gabe eines Gemarterten, die Gabe, mit dem Tod allein zu bleiben.“ Mika Alexidse „Man spricht nicht über den Tod“ Die Sammlung der Erzählungen von Mika Alexidse wurde zum ersten Mal 1985 herausgegeben. Eine weitere folgte 1985. In den georgischen Druckmedien wurden sowohl seine Erzählungen als auch seine Gedichte regelmäßig veröffentlicht. Auch wenn Mika Alexidse zu seiner Zeit kein unbeschriebenes Blatt war, erregte seine psychologische Prosa sowohl die Gemüter der damaligen Leser als auch die seiner Kollegen. Dennoch wurde er von den georgischen Literaturkritikern der Vergessenheit ausgeliefert. Auch solche Paradoxe sind Teil georgischer Literaturgeschichte. Und so entstand bei mir beim Lesen dieser Erzählungen das Gefühl der Überraschung, so ähnlich, wie man vor etwas Großem und Unerwartetem steht: Wie ist das denn nur möglich? Ich las in der Vollkommenheit der Erzählungen Mika Alexidses die schönen und weniger schönen Geheimnisse der menschlichen Seele. Neben diesen Geheimnissen und der Schönheit der Seele auch jene Ungerechtigkeiten, in die das Schicksal der Erzählungen und auch ihres Autors verwickelt wurden. Leider blicken wir heute auf ein fünfundzwanzigjähriges Schweigen zurück, auf das Vergessenwerden, das diese seltenen Werke aus der Literaturwelt entfernt hatte. Mika Alexidses Erzählungen wurden in den 1980er-Jahren geschrieben. Das war die Zeit der historischen Bewegungen: Die Sowjetunion „veränderte sich“, nationale Bewegungen und die Zeit des gesellschaftlichen Bebens kamen auf. Damals wurden die Menschenmassen von globalen Denkströmungen so angetrieben, als würden sie in deren Willen agieren. Gerade große Ereignisse machen aus einem Menschen eine Marionette, nur so zum Vergnügen. Je stärker die Strömung und je breiter das Flussbett ist, desto größer ist die Illusion der Freiheit. Die heftigen gesellschaftlichen Aufregungen der 80er- und 90er-Jahre waren das schwere Los derer, die in diese Strömung der Zeit geraten waren, mit der gesellschaftlicher Psychose und den tragischen Folgen der Bürgerkriege. Als hätte gerade hier, in dieser nationalen Hölle das Epizentrum des menschlichen Daseins gelegen, aber hinter dem lärmenden Vorhang der Zeit zeigt der Negativ-Film der Geschichte ein anderes Bild und zwar davon, dass die wahre Wahrheit hinter den Schritten der Zeit läuft, und für diese Wahrheit gibt es keine größere Sünde und Feigheit als die blinde Kraft, mit der sich die Menschen vor verbotener Reinheit des Erwachsenseins und der Fülle schützen. In Mika Alexidses Erzählungen werden keine Geschichten erzählt. Sie werden nicht deswegen nicht erzählt, weil der Literatur der Erzählstoff ausgegangen sei, sondern hier werden die Erzählungen anders behandelt: Die Menschen in der Erzählung haben keine Geschichten. Sie selbst sind die Geschichte. Diese Erzählungen sind das Ritual jeder ihrer Bewegungen, ihrer Gestik und ihrer graziösen Traurigkeit. Sie werden im literarischen Gedächtnis der Sprache eingefangen und unsterblich gemacht. Es ist sehr schwer, das Genre dieser traurigen Erzählungen zu definieren. Hier gibt es keine Flucht oder psychologische Kämpfe. Viel mehr sind es Geschichten des Gehorsams gegenüber der Freiheit. Sie sind wie eine riesige Meuterei wegen der Missverständnisse, die manchmal im Schicksal der Menschen auftauchen und zum Kampf gegen die intakte Lage der Gerechtigkeit, Schönheit und Güte auffordern. Hier beginnt die dramatische Geschichte des Ungehorsams gegenüber der Freiheit: In der Gefängniszelle der Zeit bleibt die Liebe stets außerhalb. Das zwingt uns dazu, nicht zu kämpfen, sondern den inneren Gesetzen der Freiheit zu gehorchen, die vom Glauben begleitet werden, dass die Zeit eh von allein vorüber gehen wird, die Zeit eh den Raum verlassen wird, in den sie nicht reingehört. Die Erzählungen sind dennoch weder optimistisch noch pessimistisch. So einen Fokus der Anschauung besitzen sie nicht. Sie besitzen ihre eigene Anschauung und wenn sie irgendwohin schauen, dann wiederum in ihre eigenen Augen, aus denen die Protagonisten stets auf ihre ewige Kindheit zurückblicken. Die Wahrheit, in der die Blicke verwandter Seelen aufeinander treffen und einander erkennen, ist derart zart und hüllenlos, dass sie in der schizophrenen Agonie der nervlichen Anspannung diesen nicht existierenden Körper dennoch erschüttern kann. Ein Krieg zwischen der großen Liebe und der großen Angst bricht aus. In dem aber trotzdem der Mensch gewinnt. Das bedeutet, hier gewinnt seine Einsamkeit, diese unvollkommene Frucht der Glückseligkeit, die uns daran erinnert, dass die Liebe die Heirat des Todes und des Lebens bedeutet, dass für sie andere Eltern nur ein Surrogat sein kann. Die Erzählungen Mika Alexidses tragen etwas Unerwartetes in sich: Zwar folgen die Sujets den dramatischen Linien der Seele und des Schicksals von Protagonisten, die immanente Empfindung der Texte ist aber dennoch episch. Diese ganzen seelischen Risse und Erschütterungen, diese ganze Wahrheit über die Einheit der Welt, werden von der Erfahrung ihrer Größe und ihrer Großartigkeit gesehen. Diese ungewöhnliche Synthese zwischen der seelischen Dramaturgie und der epischen Sicht ist ein Teil der Dynamik der Syntax. Wie ein musikalisches Thema, das sich zu seinem Kontrapunkt hinarbeitet. Wenn wir der Psychologie literarischer Empfindungen folgen, so wird die wahre Literatur nicht durch ihren Inhalt, sondern durch ihre Form dargestellt. Das, was der förmliche Optimismus ist, ist schon der Glaube, und was der Inhalt ist, ist lediglich die Hoffnung. Mika Alexides Erzählungen versprechen nicht die Hoffnung, sie hoffen einfach. Deshalb ist ihre literarische Sprache darstellerisch und schauspielerisch. Sie stellen eine Art Feier der Performance dar, in der die sprachliche Handlung und die literarische Stimme sich der tiefsten und zartesten Kräfte der inneren Bewegungen, der Energie und des Gemüts bedienen. In der Komposition dieser Erzählungen sind das Erzählen und der Stoff unzertrennlich. In der thematischen Empfindung überdecken sie sich gänzlich. Beispielsweise in der Erzählung „Babuschi“ wird die Welt aus den Augen eines Zwölfjährigen gezeigt, die den Stempel des abgebrannten Hauses, des Halbwaisen und des Gefängnisses trägt. Babuschi wollte von dem abgebrannten Haus berichten, wollte jede Einzelheit erzählen, die er gesehen hatte. Im Moment konnte er sich gar nicht vorstellen, dass seine Erzählung nach einer ganz kurzen Zeit völlig an Bedeutung verlor. Das Leben, das vom Gewehrlauf abhing, zog sich in die Länge und ließ ihre Stimmen und Körper so flattern wie einen Zeitungsfetzen der Wind. Man hätte jedem von ihnen einen Namen geben können, unter anderem auch Freiheit. Deshalb wurde dieses Wort von keinem mehr erwähnt und wurde somit auch nicht mehr zum Gesprächsthema. Die Quelle ihres tiefen Bedauerns lag im verkohlten Haus von Babuschis Nachbarn und er glaubte, sie hätten unendlich darüber sprechen können. Hier aber bekam er zu hören: „Wer braucht schon ein Haus?“ und spürte, wie der Rauch, trüb und zerfetzt, mit dem Wind zusammen aufstieg und sich sehr weit mit dem Nebel mischte ... („Babuschi“) Georgien ist ein Land des Meeres und der Berge. Die westliche Grenze verläuft entlang des Schwarzen Meeres, im Norden ist das der Kaukasus, wo einst die Götter den mythischen Amiran (den griechischen Prometheus) angekettet haben sollen. Daher erscheint es mehr als selbstverständlich, dass sich die symbolische Denkweise hier durch das Meer und die Berge auf natürlichem Wege äußert. In der Literatur sind das Meer und die Berge überwiegend geografische Teile (aber keine zufälligen). Ihre konzeptuelle Verwandlung, wie es in Thomas Manns „Der Zauberberg“, Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ oder Melvilles „Moby Dick“ geschieht, ist selten in der georgischen Literatur. Hier ist die Tradition der Berge weitaus häufiger als die des Meeres. Natürlich gibt es das Meer in Galaktion Tabidses Gedichten und in Otar Tschiladses Prosa. Die Leere dieses Kontexts wird von Mika Alexidses Erzählung „Man spricht nicht über den Tod“ gefüllt, die vollkommen durch die Thematik des Meeres inspiriert worden war, genauer gesagt, durch die Mystik des Meeres und die Poesie. In Mika Alexidses Erzählungen wird die ganze Welt als ein Teil der emotionalen Empfindungen dargestellt. In diesen Empfindungen wird sie geboren und lebt weiter. Deshalb sind objektive Gegenstände, das seelische Drama und die literarische Lyrik in ihrer natürlichen Ganzheit eine ontologische Gegebenheit. Anders kann es nicht kommen. Daher wird zum Beispiel nicht zwischen der Frau und dem Meer unterschieden, als zwei Ähnlichkeiten, die sehr wertvoll sind, und in dieser Ähnlichkeit das unausweichliche Dilemma des Zweikampfes und der gegenseitigen Unterwerfung zwischen der Liebe und der Freiheit darstellen. In der poetischen Welt der Erzählungen von Mika Alexidse ist auch die Empfindung der Natur äußerst tief und neuartig. In dieser Hinsicht ist die ganze georgische Literatur sehr reich. Wir könnten sagen, dass mit dem Thema der Natur die georgische Literatur nicht nur die Erfahrungen anderer Literaturen durchgemacht, sondern auch ihre eigenen, vollkommen einzigartigen literarischen Realien geschaffen hat, die noch heute an ihrer Aktualität nichts eingebüßt haben. Sowohl die Berge, als auch das Flachland, hoch sowie niedrig, bekannt und unbekannt stehen im postkolonialen Kontext ... Neben dieser konzeptuellen Dichotomie gibt es auch einen Dialog des Menschen mit der Natur und die lyrische Tradition seiner anthroposophischen Sichtweise. Ein unverzichtbarer Bestandteil dieser Tradition sind auch die Erzählungen von Mika Alexidse. Wenn die Literatur neben all dem auch die Welt der Gedanken, Emotionen, unerwarteter Bund der Wörter und unerwartete Lage der Gegenstände ist, dann ist Mika Alexidse ein wahrer Künstler dieses Unerwarteten. In den seelischen Erfahrungen dieser unerwarteten Bündnisse liegt ihre Kraft, die den Abgrund der Welt berühren und ihr Geheimnis lüften konnte. Anders vermag es keiner, die Erotik und die entgegengesetzten Positionen der Zeit und der Leere auf so eine künstlerische Weise darzustellen, wo „Liebe“, „Geschichte“ und „Nichts“ durch ihre zusammenhängende Natur eine ambivalente Dichotomie zwischen dem Leben und dem Tod darstellt und mit einem scharfen Blick einen Bogen bis zu den Pathologien des menschlichen Schicksals spannen kann. Zum Beispiel die Politik als Pathologie, wo die gesunde Sicht von der Weltordnung getrübt wird. Hier, in diesem literarischen Zwischenkontext werden die Freude des Menschen über die Ganzheit der Welt und die Schönheit der Natur und seine schmerzhafte Trauer der leeren Realität, die gerade Kopf steht, herausgelesen. Was ist denn die Literatur, wenn nicht die Illusion der Tilgung der Grenze zur Realität. Genau gesagt, die Übersetzung der Wahrheit, die nicht verpflichtet ist, das triviale Bild der Welt direkt zu wiederholen. Deshalb ist es die Aufgabe auch der „Übersetzung“, mehr zu sein als das „Original“. Die Literaturgeschichte ist eine Geschichte dieser Pflichtkunst. In der Erzählung Mika Alexidses „ Das Festmahl des Schweigens“ ist das Schreiben ein Teil des Lebens, das selbst schon ein literarischer Akt ist. Hier ist das Schreiben weder eine Zusammenfassung noch eine Fortsetzung einer Geschichte. Sie ist vollkommen in die Gesetze des Lebens involviert: „Ich habe den Himmel schon lange nicht mehr so ruhig angeschaut. Sah ich früher hoch, so trübte er sich, brauste vor meinen Augen auf, bedeckte mich, ließ mich den Kopf verbeugen, ließ mich einem armen Stier ähnlich aussehen. Dann nahm er mich in die Finsternis mit. Dann war ich nur noch eine Handvoll dunkler Fleck. Er warf mich so erbarmungslos auf die Erde, dass ich nicht einmal aufschreien konnte. Auch ein Stier bekommt keine Gelegenheit für eine Beichte ... In dem bleifarbenen Himmel sah ich nicht die Poesie, sondern einen kleinen Fleck, der sogleich auf die Erde stürzen würde ... So begann in meiner Jugend eine harmlose Erzählung, für die ich später keine passende Überschrift finden konnte und sie dann irgendwie „Christusaugen“ nannte. Das war eine besonders kindische, naive Erzählung über einen einfachen Menschen, der nicht nur keine eigene Sünde, sondern keine eigene Hure hatte, nicht einmal für eine Nacht. Aber dennoch hörte er völlig unerwartet in der Abenddämmerung auf der Straße: „Du ähnelst Nichts mehr, mein Kind“ („Das Festmahl des Schweigens“). Danach lesen wir die schönste Poesie: Wie die Nicht-Existenz die Ephemere der Existenz hervorruft, der Tod den Mythos des Lebens, und dass letztendlich das Leben in seiner weisen Unvollkommenheit die zarten Furchen der Glückseligkeit in den Schmerz und in die Nicht-Existenz zieht. Die komplizierte Angelegenheit der Liebe, die wir in dieser Geschichte antreffen, ist das Erkennen des weltlichen Lichts von ihrer dunklen Seite her. Hier wird die ganze Welt auf den Kopf gestellt, alles bis ins kleinste Detail zerlegt, damit sie Kleinigkeit ihres Wesens jede Kleinigkeit ihrer Empfindungen übernimmt. Wie soll Musik erzählt werden? Genauso schwer ist es, die Erzählungen Mika Alexidses nachzuerzählen. Diese sollten unmittelbar erlebt werden. Und dennoch! Wovon möchten uns diese Erzählungen berichten? Wahrscheinlich davon, wie die Welt atmet, oder davon, dass die Poesie eine Arterie des Lebens darstellt, durch die das Weltleben fließt und die sinnlose Fülle des Lebens an der Seite liegen lässt. Die es vermag, trotzig und mit angehaltenem Atem weiterzufließen, damit sie irgendwo, irgendwie, in einem ganz persönlichen Schicksal der Menschen das Ewige und das Zeitweilige aufeinander treffen und sich einen lässt ...
Aktualisiert: 2018-11-01
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So liebte man in Georgien.

So liebte man in Georgien. von Assatiani,  Guram, Chogoshvili,  Levan, Lisowski,  Maja, Paitschadse,  Manana, Pop,  Traian, Rothfuss,  Uli
Anna Letodiani Guram Assatiani – Forscher des georgischen Charakters Die georgische Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts bereicherten einige ausgewählte Forscher. Zu ihnen zählt auch Guram Assatiani, „ein wahrer Ästhetiker und ein fantasievoller Literat vom Scheitel bis zur Sohle“, wie er später von einem Kollegen genannt wurde. Guram Assatiani wurde 1928 in die Familie des berühmten georgischen Literaten Lewan Assatiani in Tbilisi geboren. Ab 1946 studierte er an der Lomonosow-Universität die westeuropäische Literatur. Seine Doktorarbeit über die georgisch-französischen Beziehungen verteidigte er in Moskau. Danach kehrte er nach Georgien zurück und arbeitete bei einer renommierten russischsprachigen Literaturzeitschrift, wo er für russische Leser Artikel über georgische Literatur schrieb. Parallel dazu hielt er Vorlesungen über verschiedene Fragestellungen der georgischen Literatur und leitete die Abteilung der georgischen Literatur aus dem 19. Jahrhundert am georgischen Literaturinstitut. 1977 schrieb Guram Assatiani seine Doktorarbeit über das Thema „Die Evolution des georgischen Dichterdenkens im 19. Jahrhundert“. 1978 war er der leitende Redakteur der Zeitschrift „Literaturnaja Grusija“ („Literarisches Georgien“). Ab da unterstützte er noch intensiver, dass georgische Schriftsteller in den Blickwinkel russischer Leser gerieten und bekannt wurden. Im April 1982 wurde das Hauptwerk Guram Assatianis „Zu den Ursprüngen“ veröffentlicht. Das war das letzte Buch, das zu seinen Lebzeiten herausgegeben wurde. Der Forscher verstarb nach einer schweren Krankheit im Juni 1982, mit nur 54 Jahren. Ungeachtet dessen, dass das literatur-wissenschaftliche Erbe Guram Assatianis mehrere Werke umfasst, hielt der Autor den Prozess des Schreibens für eine sehr komplizierte Beschäftigung und dachte, dass diese Tätigkeit mit einer enormen Verantwortung verbunden sei. Der Schreibstil Assatianis ist ästhetisch ausgerichtet. Wissenschaftliche Zeugnisse der verwendeten Literatur werden wir bei ihm niemals antreffen. Die Ansichten, Einschätzungen und Konzepte, die er in seinen Artikeln vertritt, sind eher intuitiv, aber diese Reflexionen und freie Interpretationen stützen sich auf eine breite Erudition und klassische Bildung und erhalten dadurch ihren besonderen Wert. Seine Schreibweise zeichnet sich auch durch eine gewisse Pathetik aus. Sie ist jedoch niemals unecht oder plakativ. „Zu den Ursprüngen“ von Guram Assatiani, dessen Auszug hier vorgestellt wird, zeigt dem interessierten deutschen Leser den georgischen Charakter, generell die georgische Ästhetik und die zentralen Aspekte der ästhetischen Welt auf. Etwas Vergleichbares gab es vorher nie in der georgischen Literaturwissenschaft. Guram Assatiani erforschte den georgischen Charakter anhand der georgischen schöngeistigen Literatur und der Folklore, denn er hielt gerade die Literatur als Emanation des geistigen Wesens einer Nation. Nach den Beobachtungen des Autor neigt die georgische Natur zu Extremitäten: Im Falle einer optimistischen Gemütslage denken die Georgier, sie seien die Besten, und wenn sie kein Glück haben, verfallen sie leicht der Hoffnungslosigkeit und halten sich für die Beklagenswertesten der Welt. Für eines der fundamentalen Wesen der ästhetischen Natur des georgischen Volkes hält der Autor die Übereinstimmung der seelischen und fleischlichen Ursprünge und um diese Ansicht zu untermauern, wendet er Schota Rustawelis „Der Recke im Pantherfell“ und Wascha-Pschawelas Literatur an. Seiner Meinung nach wird die ästhetische Natur der Georgier in der literarischen Weltanschauung gerade dieser beiden Dichter auf eine vollkommene Art und Weise dargestellt. Nach dem allbekannten Schema des apollinischen und dionysischen Ursprungs von Nietzsche kann man zweifelsohne die Kunst jedes beliebigen Kulturvolkes analysieren. Guram Assatiani vermeidet aber dieses Schema auf den georgischen Charakter automatisch anzuwenden. Er denkt, dass für die georgische Kultur ausgehend aus der georgischen Natur Prometheus, das Abbild des unbeugsamen Gottes eher in Frage käme. Nach den Beobachtungen des Autors ist auch die ost- westliche Synthese ein Merkmal des georgischen Charakters. Zwar vertritt er die Ansicht, dass in der georgischen Literatur die östlichen und westlichen Ursprünge einander gegenüber stehen, aber in dieser Gegenüberstellung und in ihrem Kampf wird kein „Verlierer“ vollends zerstört. Öfter erschaffen diese Ursprünge eine seltene Einheit. Als Beispiel für die harmonische Einheit der östlichen und westlichen Tendenzen führt Guram Assatiani „Den Recken im Pantherfell“ an, obwohl er auch betont, dass trotz der ost-westlichen Synthese das Werk Rustawelis dennoch eine Erscheinung des rein nationalen Charakters sei. Wie im „Gilgamesch-Epos“, in der „Illias“, der „Odysee“, in „Schahname“ und der „Göttlichen Komödie“ wird auch im „Der Recke im Pantherfell“ die Tendenz vereint, die für den alten Orient, für die antike Kultur und die christliche Weltanschauung charakteristisch sind. Guram Assatiani betont jene negativen Eigenschaften der georgischen Natur, wie Faulheit und Angeberei. Um diese Merkmale darzustellen, bediente er sich eines der bekanntesten Helden der georgischen Märchen: Der Aschenstocherer. Ein weiteres Charakteristikum der georgischen Natur ist für ihn das Streben zum „Ruhm“, und nennt das höchste Ideal sich ruhmreich zu zeigen, die Aufopferung für die Heimat. Ungeachtet dessen, dass Guram Assatiani die Feindseligkeiten der Georgier einander gegenüber für ein wesentliches Manko hält, betont er im gleichen Zug, dass Georgier zu jener Kategorie der Nationen angehören, bei denen das Gefühl der Freundschaft besonders ausgebildet ist. Seiner Meinung nach gibt es keinen Georgier, der keine Freunde hat und die Basis der Freundschaft beruht eher auf Unterschiedlichkeiten und nicht auf Ähnlichkeiten. Weiter führt er noch an, dass ein Georgier sich immer auf einer Bühne vorstellt. Er spürt stets unentwegte Blicke anderer und lebt in ständiger Begleitung dieser Blicke. Für Guram Assatiani, der ein Vertreter einer Nation ist, die zwar eine uralte Kultur besitzt aber zahlenmäßig klein ist, ist die Grundlage des Optimismus das ewige Streben der georgischen Seele nach Erneuerungen. In diesem Wesen sieht er die besondere Überlebenskraft und das dichterische Potenzial der nationalen Energie aller Georgier. Als Muster der georgischen Ästhetik wird Guram Assatianis Brief „So liebte man in Georgien“ angesehen, der auch in der Ausgabe vertreten ist. Das spezifische Erscheinungsbild der Liebe hält der Forscher für eines der Charaktermerkmale einer jeden Nation. Er versucht seine eigenen Ansichten zu verteidigen, indem er Beispiele und Helden aus unterschiedlichen Epochen und Genres anführt. Nach einer ausführlichen Diskussion beschließt Guram Assatiani letzten Endens, dass die Form der Liebe in der georgischen Poesie eine tragische ist. Seiner Meinung nach verursacht die Tragik jenes Gefühl, das durch eine vollkommene Glückseligkeit unerreichbar sei, dass das ein Wunsch sei, der nie in Erfüllung geht. Das Wesen der georgischen Natur äußert sich eben wegen dieser Unerreichbarkeit in der selbstlosen Suche der eigenen Spuren. Was „Die letzte Unterhaltung“ angeht, so wurde diese in einem Krankenhaus aufgezeichnet, kurz vor dem Tod Guram Assatianis. Das Thema dieser Unterhaltung ist „Der Recke im Pantherfell“, als Gipfel der ost-westlichen Synthese. Der Anhang der vorliegenden Ausgabe umfasst einen polemischen Artikel „Ein lauter Weckruf“ von Akaki Bakradse (1928-1999), dem bekannten georgische Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts. Den schrieb er als Antwort auf Guram Assatianis Hauptwerk. Die Ansichten, die er in diesem Artikel vertritt, beeinflussten nachhaltig die Forschungen an der georgischen ästhetischen Natur und generell am georgischen Phänomen. Besonders standhaft erwies sich die Bakradse-Interpretation des Aschenstocherer-Phänomens. Historisch gesehen mussten die Georgier überwiegend Verteidigungskämpfe austragen. Georgien hatte noch nie einen Feind, der schwächer gewesen wäre. Der Gegner war stets stärker. Um zu überleben und die eigene Identität aufrechtzuerhalten, war Überlegenheit und Wendigkeit gefragt. Akaki Bakradse merkt an, dass gerade dadurch das Paradigma des Ascherstocherers erschaffen wurde. Wegen seiner Klugheit und Wendigkeit ist er dem Riesen immer überlegen. Seine Faulheit und Prahlerei sind nur eine Mystifizierung, eine Maske. In der Beziehung des Aschenstocherers und des Riesen äußert sich das Modell der georgischen Geschichte. Unser Land hätte im ungleichen Kampf gegen den Feind nur das Ideal des Aschenstocherers retten können. Also, die Eigenschaften des Aschenstocherer (oder eines Georgiers) sind die Klugheit und Wendigkeit und nicht die Faulheit und Prahlerei. Genau diese Herangehensweise ermöglicht den Georgiern nach Bakradse die Grundlagen für den Optimismus zu erschaffen. Wenn Guram Assatiani schreibt, dass den georgischen Charakter die Synthese des Seelischen und des Materiellen ausmacht, so glaubt Akaki Bakradse, dass im entscheidenden Moment das Seelische das Materielle bezwingen sollte. Eben darum konnte sich die georgische nationale Seele in der Vergangenheit nicht gänzlich herausbilden. Das ist die Angelegenheit in der Zukunft und kann erst dann geschehen, wenn wir das Seelische und das Materielle harmonisch miteinander verbinden können, und wenn wir vor der Wahl stehen, dann entscheiden wir uns für das Seelische. Und schließlich müssen wir anmerken, dass die Texte von Guram Assatiani und Akaki Bakradse, die hier vorgestellt werden, in der georgischen Literatur auch heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt haben. Über die Fragen, die von diesen zwei Literaten gestellt und analysiert werden, sind schon unzählige große und mittlere Arbeiten geschrieben worden.
Aktualisiert: 2018-11-01
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Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens / Georgien im weltpolitischen Kontext

Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens / Georgien im weltpolitischen Kontext von Gatschetschiladse,  Rewas, Lisowski,  Maja
In diesem Buch des georgischen Autors wird seine Sichtweise der turbulenten Entwicklungen der Geschichte Georgiens, eines Landes im Kaukasus, während des 20. Jahrhunderts und Anfang des 21. Jahrhunderts wiedergegeben. Dies geschieht unter der Berücksichtigung der Weltgeschichte (und ganz besonders der Geschichte der Nachbarländer Georgiens) und des breiten geopolitischen Kontextes. Fast über zwei Jahrhunderte musste Georgien als Bestandteil des Russischen Staates (Russisches Imperium und die Sowjetunion) existieren. Zwischen 1918 und 1921 war und seit 1991 ist Georgien ein unabhängiger Staat und steht trotz vieler Unruhen auf dem Entwicklungsweg zur Demokratie.
Aktualisiert: 2022-12-30
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Die Unmöglichkeit des Wortes

Die Unmöglichkeit des Wortes von Barbakadse,  Dato, Lisowski,  Maja, Paitschadse,  Manana
(...) Dichter sollten in den Untergrund gehen, sie sollten darauf verzichten, dass der Leser ihnen folgt, und damit auch auf Anerkennung und Popularität, d. h. auf alles, was ihre Surrogate leichter als sie, zusammen mit ihnen und durch sie erreichen. (Genauer wäre es freilich, zu sagen, dass nun keiner mehr irgendetwas erreicht, sondern nur eine x-beliebige Auswahl und funktionale Platzierung, wie das Geschäft eben läuft, vollzogen worden ist. Ein derartiges Bestreben stünde nicht nur den irrationalen Ursprüngen der Kulturordnung, sondern auch generell der Schönheit der Kulturexistenz gegenüber.) In dürftigen Zeiten verringert sich die Zahl der tatsächlichen LeserInnen gleichermaßen wie die Zahl der Dichtenden. Dementsprechend wird auch die Zahl der Leser, die den poetischen Text und sein Surrogat auseinanderhalten können, niedriger (gut möglich, dass es solche Leser noch weniger gibt als Dichter...). Dem Leser soll die Möglichkeit gegeben werden, die Poesie wiederzuerkennen und wiederzubekommen. Dies mag ihm der Dichter dadurch ermöglichen, dass er den Leser verlässt, ihm den Rücken zukehrt – (oder er kehrt den Rücken nur dem eigenen Sentiment, Egoismus und Narzissmus zu). Nur auf diesem Weg kann er den wahren Leser aus der Hölle befreien, dem Dichter als Falle zu dienen. Wenn die Zeit reif ist, wird der wahre Leser den Dichter finden und ihn zurückgewinnen, denn er verliert nicht die Poesie, sondern im Gegenteil: er spürt ihren Herzschlag heftiger denn je. (…)
Aktualisiert: 2018-10-05
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Der Tag des Menschen

Der Tag des Menschen von Guguschwili,  Badri, Lisowski,  Maja
Vorwort Am Ende der 1980er Jahren ist man in Georgien (und wahrscheinlich auch im heutigen Georgien) den meisten Menschen mit dem Wunsch, ein Dichter zu sein, mit Ironie begegnet. Das sieht heute banal aus, und keiner denkt mehr daran, dass diese Wahl damals dramatisch, oder schlimmer, tragisch hätte werden können. Aber bis dahin, nur ein paar Jahrzehnte vorher, hatte das Land jene Phase durchlebt, in der das Dichter-Sein noch mit dem Tod bestraft wurde, und in der das totalitäre System einen Dichter entweder unterwürfig machte oder ihn tötete oder ihn erst unterwürfig machte und dann tötete. Als Gegenleistung für seine Wahl erwartete auch Badri Guguschwilis der Tod: aber nicht unmittelbar durch den Staat, sondern durch seine eigene Hand, wie ein durch eine transzendentale Tragik bedingtes Schicksal seiner seelischen Suche. Seine persönlichen Erfahrungen waren damals selbstverständlich durch die Erfahrungen und die Realität des Landes noch verschärft. Als er sich am Ende der 1980er Jahre für das Dichtertum, für das Dichter-Sein entschied, bedeutete diese Entscheidung in Georgien noch immer moralische Kompromissbereitschaft oder eben Kompromisslosigkeit gegenüber dem Sowjetsystem. Aber sehr bald wurde es schon möglich, Gedichte, ohne die Erlaubnis des Staates, nicht nur zu schreiben, sondern auch zu veröffentlichen. Fast bis zum Ende der 1980er Jahre hätte sich niemand im Land vorstellen können, dass es jemanden nicht nur gelingen würde, sich Dichter zu nennen, sondern auch noch eigene Gedichte veröffentlichen konnte. Bis dahin hatte immer der Staat den Status eines Dichters vergeben und erst danach die Gesellschaft. Ein Mann, der schon Mitte dreißig war und einen handfesten Beruf als Bauingenieur hatte, und der bis dahin noch nichts nach den Sowjetregeln unternommen hatte, um den offiziellen Status eines Dichters oder irgendeine offizielle Position zu bekommen, dieser Mann konnte erst dann als Dichter vor die Gesellschaft treten und einen eigenen Gedichtband in der Hand halten, wenn er selbst dazu beitrug, das sowjetische System zu zerstören. Anfang der 1990er Jahre geschah eben dies, und Badri Guguschwili wurde Dichter. Von 1990 bis 1993 veröffentliche er fünf seiner Bücher, lebte einige Jahre als Dichter, gewann andere Dichter als Freunde und starb als Dichter, als er 1996 seinem Leben eigenhändig ein Ende setzte. Anfang der 1990er Jahre ähnelte das Leben des Dichters sehr dem, was auch Georgien während des Modernismus zwischen den Jahren 1910 - 1920 erlebt hatte, und absolut nicht mehr dem, was in den Jahrzehnten der Sowjetregierung geschah, insbesondere während Badri Guguschwilis Jugend in den 1970 - 1980er Jahren. Zu jener Zeit wurde kein Dichter mehr von Staat als Mitglied im Schriftstellerverband aufgenommen, kein Auto und keine Wohnung wurden mehr zur Verfügung gestellt, es gab auch keine regelmäßigen Buch-Veröffentlichungen mehr, es wurde nicht mehr nach einer persönlichen oder schöpferischen Aufgabe verlangt. So ein Staat, die UdSSR, existierte einfach nicht mehr. Nun steckte der neue wieder unabhängige georgische Staat, versunken im Chaos des Bürgerkriegs, ethnischer Probleme, Kriminalität, des wirtschaftlichen und energetischen Zusammenbruchs, in ganz anderen Schwierigkeiten. Für Dichter gab es da keinen Platz mehr, weder für alteingesessene noch für ganz neue. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Badri Guguschwili wie ein Dichter. Er war allein. Er hatte aber einige Dichterfreunde, die sich die gleichen Prioritäten setzten wie er. Es gab keinen, der ihm bei seinen materiellen Problemen hätte helfen können. In diesen Jahren litten alle: er, seine Freunde, sein ganzes Land. Guguschwili veröffentlichte seine Gedichte in jenen Zeitschriften und nahm an jenen Videoveranstaltungen teil, deren Gründung wenige Jahre zuvor schier unmöglich gewesen wäre: „Polylog“, „Dato Barbakadses Zeitschrift“, usw. Darüber hinaus hätte es auch keine Selbst-Veröffentlichtungen seiner Bücher gegeben. Viel wichtiger ist hingegen, mit seinen Gedichten machte er seinerseits eine bewusste Wahl in Richtung der modernen Poesie, des schöpferischen Suchens und des Wachstums und entwickelte sich dadurch zu einem professionellen Dichter. Dies geschah im Unterschied zu den anderen hunderten georgischen Poesie-Liebhabern, die ihre naiven realistisch-patriotischen Gedichte ebenfalls drucken ließen, als sie die Möglichkeit dazu bekamen und auch im Unterschied zu den anderen Dichtern seiner Zeit, die versuchten, die georgische Gesellschaft für die zeitgenössische westliche Poesie zu interessieren. Badri Guguschwili hätte jedoch weder die Mission eines Kulturträgers erfüllen können, noch hatte er dies jemals versucht, konnte aber klar und deutlich sehen, vor welcher Wahl damals ein Dichter stand, als sich die gegebenen Kulturbarrieren gerade lösten. Er ließe sich nicht als Sowjetdichter bezeichnen, nicht nach dem Begriff der politischen und sozialen Konnotationen, obwohl er im postsowjetischen Georgien oder generell in jeder Zeit, durchaus als Symbol eines siegreichen oder geschlagenen Dichters gelten könnte, der sich auf den Weg seiner seelischen oder schöpferischen Suche gemacht hatte. Badri Guguschwilis Gedichte sprechen in Georgien heutzutage jenen kleinen Kreis der Leser an, die sich für unkonventionelle Gedichte und die Existenz der Erfahrungen expressionistischer Selbstdarstellung in der georgischen Poesie interessieren. Mit der Zeit wächst auch das Interesse für die transitive Periode am Anfang der 1990er Jahre, was auch Badri Guguschwilis Poesie stärkere Aufmerksamkeit verschafft. An seine Poesie und seine Persönlichkeit erinnern sich seine Freunde, die noch heute ihr eigenes dichterisches Leben weiterleben. 2013 wurde in Tbilissi eine neue Auflage von Guguschwili „Die Königin des Fleisches“ herausgegeben. Sein Freund Dato Barbakadse, dem der Durchbruch in Westeuropa gelungen ist, hat dem deutschen POP-Verlag die Herausgabe dieser Texte empfohlen. Schließlich wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf den bekanntesten Text des Autors lenken, „Die Königin des Fleisches“, der 1993 zum ersten Mal gedruckt wurde. Hinsichtlich des Formates ähnelt der Text einem Poem. Es ist ein unkonventionelles, freies Gedicht. Dem Genre nach besitzt es einen panegyrischen, hoch pathetischen Stil und gibt die Strukturen einer Ode wieder. Der Untertitel des Poems, „Die Muse des Fleisches“ erinnert uns an die antike Tradition des Lobes einer Muse oder einer Göttin. Es ist jedoch sehr offensichtlich, dass es sich hier um einen negativen Panegyrikos handelt, der sich als Ziel gesetzt hat, jenes zu offenbaren, was er hier der Form nach lobt. Durch die gegenfunktionale Anwendung des Prinzips des klassisch-klassizistischen Poesiegenres und der dichterischen Tradition versucht er eine Annäherung an den postmodernistischen Kulturkontext zu erzeugen. Die Konflikte zwischen den seelischen und fleischlichen anatomischen Konzepten führen uns aber zu der Anerkennung des Portraits des seelischen Lebens und dementsprechend zum christlichen Kontext. In den christlichen Texten georgischer Tradition bedeutet „Fleisch“ eindeutig den physischen Körper und in der materiellen Welt mit diesem Körper ein „fleischliches“ Leben. Jesus Christus wurde durch seine Menschwerdung fleischlich, zog sich an und eignete sich zusammen mit dem Fleisch auch die menschliche Natur gänzlich an, -außer der Sünde natürlich. Bei den Menschen sind die fleischlichen Wünsche jedoch bei der Sünde geblieben: Der Fleisch gewordene Mensch wird von den fleischlichen Wünschen besiegt und lässt ihn das seelische Leben vergessen. In der christlichen Kommunikation ist das Fleisch immer das, was gegen die Seele kämpft, und die seelische Erhabenheit, Reinheit, das Erreichen des ewigen Reiches geschieht nur, wenn man auf fleischliche Wünsche, selbst auf essbares Fleisch verzichtet. Georgische hagiographische Texte lehren uns die physische Qual, das Martyrium und das Ertragen fleischlicher Schmerzen, das „Einengen des Fleisches“. Im 18. Jahrhundert verlangte schon Davit Guramischwili gemäß dem christlichen Bestreben von uns den Verzicht auf Fleisch: Denn das irdische Leben, dieser Aufenthalt ist kurz, „deshalb ist es besser, auf Fleisch zu verzichten, für die Seele zu beten, Messen für sie zu halten.“ Im 19. Jahrhundert sodann schuf Ilia Tschawtschawadse satirische Helden fleischlichen Lebens und wiederholte damit, dass „es dort, wo das Fleisch gedeiht, die Seele verkümmert!“ In Badri Guguschwilis Texten ist die ganze christliche Tradition der symbolischen Bedeutung des „Fleisches“ offensichtlich und dennoch verhüllt in der materialistischen Bedeutung dieses Wortes. Von Zeile zu Zeile ist mal die Sprache christlicher Texte zu hören, mal die rohe Alltagssprache, in der wir uns mit Fleisch sättigen, wo das Fleisch dampft und zu Hauf auf dem Tisch herumliegt, es wird von den Raubvögeln unter sich aufgeteilt. Hier bilden der christliche und der alltägliche Kontext so einem Gegensatz, wie es der christliche Glaube erlaubt. Die symbolisch-allegorische und die Alltagssprache schaffen in den Texten sowohl einen bildhaften Konflikt als auch eine kontextuelle Zustimmung, weil hier zwei Lebensarten, seelische und fleischliche, aufeinandertreffen. Der direkte und konnotierte Kontrast des „Fleisches“ verstärkt die Metapher noch mehr und bringt uns noch näher zu dem religiösen Bewusstsein: ein Mensch ist nichts anderes als Fleisch, der nur des Fleisches wegen lebt und dafür auch stirbt, „Das Fleisch stellt sich in die Reihe des Fleisches an!“ Die Königin des Fleisches ist die Herrscherin der Welt, in der sie „laut lacht“ und der Dichter weint: „Das bist du, meine Königin, die so laut grunzt, du lachst aus vollem Halse, ich sehe das und beneide dich, aus ganzem Herzen beneide ich dich, dich und nur dich, weil du lachst und ich weine!“ Die Interpretation liegt nahe, dass Badri Guguschwilis Poem seine Trauer um die Nichtigkeit des irdischen Lebens zeigt: ein Text, geschrieben am Ende des 20. Jahrhunderts nach der Ästhetik der zeitgenössischen Poesie über die Seele und das Fleisch, über das Vergängliche und das Ewige. Die Spannung wird im Text nicht dadurch aufgebaut, dass der Dichter in der zeitgenössischen Sprache die Re-Affirmation der ewigen Wahrhaftigkeit darstellt, sie immer wieder zu beweisen versucht dadurch, dass uns der zeitgenössische Dichter durch Zweifel und Schmerz zeigen möchte, wovor er selbst Angst hat: Ist vielleicht das Fleisch doch das Ewige? Ist der Kreislauf des Fleisches vielleicht die einzige Wahrheit, von der wir uns nicht loslösen können? Ist die Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau wirklich nur, dass „In der Nacht das eine Fleisch neben einem anderen schläft“? Ist denn diese Welt tatsächlich der mit Fleisch bedeckte „Schlachthof der Geschichte“? Ist vielleicht das Gesetz der materiellen Ewigkeit, also die Ewigkeit des Fleisches, hier metaphorisch dargestellt? Und ist gar das Fleisch selbst unser einziger sicherer Hafen im christlichen Sinne, wo wir unseren Anker auswerfen? Ist aus unserem Glaubenssystem nur noch das übriggeblieben, dass wir unseren Fleisch gewordenen Herrn in unsere Dienste stellten? „Wie viele haben sich denn ein einziges Lamm geteilt“? Badri Guguschwilis „Die Königin des Fleisches“ ist ein expressionistischer, kontrastreicher, konfliktbeladener Text: Er zeigt uns den Konflikt zwischen der Seele und dem Fleisch; den Konflikt eines fleischlichen Menschen mit der fleischlichen Welt, in der er eingesperrt ist. So zeigt er uns den kulturellen Konflikt, den Konflikt des Massengeschmacks des damaligen Georgiens und die Tendenz der dominanten Darstellung der unmittelbaren Vergangenheit, was die realistisch-pathetische Repräsentation georgischer Ideale bedeutete, die durch sowjetische Wirklichkeit verfälscht waren, und zu dem gleich in den ersten postsowjetischen Jahren die bis dahin tabuisierte christliche Sprache hinzukam: für die erneute Legitimation und ohne den Versuch, in die gefälschte Welt zurückzukehren. Der Text lässt uns über die kulturelle Isolation des postsowjetischen Georgiens, über den kulturellen Konflikt mit der zeitgenössischen freien Kulturwelt und natürlich über die Realität unverfälschter schöpferischer Versuche unter der Berücksichtigung der Möglichkeiten jedes Ergebnisses, jeder Niederlage und des Sieges nachdenken. Tbilissi, September 2016, Prof. Dr. Bela Tsipuria
Aktualisiert: 2018-10-05
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