Sprüche, Slogans, kurze einprägsame Botschaften sind gefragt wie nie, sie begegnen uns allerorten und in allen Medien. Apho-rismen hingegen fristen ihr Leben nach wie vor eher am Rande der (literarischen) Gesellschaft, des (offiziellen) Literaturbe-triebs. Die „Sache“ ist also allgegenwärtig, das „Wort“, der Fachbegriff, ist hingegen wenig bekannt und oftmals sogar er-klärungsbedürftig. Sollte man diesem Missverhältnis tatenlos zusehen? Zu Taten werden Worte für Autorinnen und Autoren erst, wenn sie Bücher werden.
Die Herausgeber haben deshalb im November 2022 Aphoris-tikerinnen und Aphoristiker in einer Rundmail ein¬geladen, sich an einer Anthologie der deutschen Apho¬ristik der Gegenwart zu beteiligen. Unser Schreiben richtete sich an Autorinnen und Au-toren, die im letzten Jahrzehnt auf dem Gebiet der literarischen Kurzformen, spe¬ziell des Aphorismus, regelmäßig eigenständig publiziert haben. Es sollten also in der Regel mindestens zwei Bücher vorliegen. Wir sind dabei sehr flexibel vorgegangen und ha¬ben darüber hinaus auch jüngst verstorbene Autoren noch einbezogen; das unumgängli¬che Element subjektiver Einschät-zung schlägt sich besonders hier nieder.
Als die Vorsitzenden des För¬dervereins Deutsches Aphoris-mus-Archiv mit seinen zahlreichen diversen Aktivitäten und als Veranstalter von neun Aphoristikertreffen seit 2004 sind wir der Ansicht, den nötigen Überblick über die entsprechende „Sze-ne“ zu haben; wir hielten es zudem für an der Zeit, eine neue Bestandsaufnahme vorzulegen, nachdem die letzte Anthologie auf diesem Gebiet, die Sammlung von Alexander Eilers und Tobias Grüterich, schon 2010 und (in 2. Auflage) 2014 erschie-nen war. Beteiligt haben sich schließlich drei Autorinnen und 68 Autoren; diese Ge¬schlechtsverteilung spiegelt nicht unsere maskuline Betrachtungsweise, sondern – leider immer noch – die „Marktlage“ wider. Einige haben sich trotz mehrfacher Erin-nerung nicht gemeldet, andere haben wir trotz aller Bemühun-gen nicht erreicht, einige wenige haben es auch ab¬gelehnt, unter dieser Flagge zu segeln oder innerhalb dieser Auswahl-mannschaft mitzuspielen.
Von Interesse dürften vielleicht auch einige statistische Be-obachtungen sein. Was die Altersstruktur betrifft, so erstreckt sich die Bandbreite von den jüngsten Jahrgängen 1990 (Woll-mann) und 1986 (Kovce) bis zu den ältesten: 1927 (Käufer), 1928 (Behrmann) und 1929 (Uhlenbruck). Es ist nicht weiter verwunderlich, dass die meisten Autoren / Auto¬rinnen in dieser Anthologie der Aphoristik über sechzig bzw. siebzig Jahre alt sind. Mag das die insgeheim nicht nachlassende Wirkung des Vorurteils „Altersweisheit“ sein? Ebenfalls nicht verwunderlich ist, dass vom aphoristischen Schrei¬ben allein keiner leben kann. Viele Autorinnen und Autoren können auf einen Hoch-schulabschluss oder eine Hochschultätig¬keit verweisen, vor-zugsweise im Bereich der Geisteswissenschaften (häufig der Philoso¬phie, der Philologie und der Sprachwissenschaft). Es sind aber auch Juristen, Mediziner, Naturwissenschaftler (u. a. Chemiker und Biologe) vertreten. Ein weiteres Vorurteil, das vom schriftstellernden Studienrat als dem Grundtypus des „un-freien“ Autors, könnte dadurch ins Wanken kommen. Von einer Aufzählung der einzelnen Berufsbezeichnungen von A (Arzt) über F (Filmvorführer) bis Z (Zollbeamter) sehen wir ab. Was die Nationalitäten betrifft - deutsch im Titel meint wie meist „deutschsprachig" -, ist vielleicht erwähnenswert, dass sieben Schweizer vertreten sind.
Die Anordnung haben wir konventionellerweise alphabetisch gewählt, aber nicht wie üblich von vorne (A) nach hinten (Z), sondern umgekehrt, nicht nur als Akt ausgleichender Gerech-tigkeit gegenüber den Autorinnen und Autoren zwischen T und Z, die darunter litten und leiden (außer in der Schule), immer, wenn überhaupt, zum Schluss „dranzukommen“, sondern vor allem, weil es dem Umkehrdenken des Aphorismus entspricht. Warum nicht mit dem Umkehren schon hier formal anfangen? Der Titel „Aphoristik“, nicht „Aphoris¬men“, ist mit Bedacht ge-wählt; auch auf den bestimmten Artikel verzichten wir bewusst. Der Titel schließt vereinzelt auch Autoren von Kurztexten ein, die sich ausdrücklich nicht als Aphoris¬tiker verstehen.
Es ging uns im Kern um eine Selbstaus¬wahl von jeweils rund 20 Texten, aus denen wir gegebenenfalls, wenn es der maxi-male Umfang des Bandes erforderte, eine Feinauswahl treffen wollten. Das haben wir dann in einzelnen Fällen auch getan, wenn der vorgegebene Umfang überschritten war oder wir da-rum gebeten wurden. Der Leser, die Leserin soll dadurch ein Bild von der jeweiligen individuellen Schreibart der Autorin/des Autors erhalten.
Dem dient auch die Rubrik „Zur Person“, in der wir uns (ne-ben biographischen Angaben, so knapp oder ausführlich wie gewünscht, und bibliographischen Angaben, die wir auf die aphoristischen Publikationen beschränken) eine Selbstdarstel-lung der Autoren/Autorinnen zu ihrer aphoristischen Arbeit vor-stellten. Auf die Angabe, ob die Texte unveröffentlicht oder schon veröffentlicht sind (und wo), haben wir verzichtet. Wir ha-ben hier gewissermaßen einen „Sendeplatz“ angeboten – diese Metapher eines der Auto¬ren finden wir überaus treffend. Er soll also die jeweilige aphoristische „Visitenkarte“ ent¬halten. Auch hier war unser Ziel, gerade die Variationsmöglichkeiten zu zei-gen und keinerlei Normierung vorzugeben. Der eine mag sich und seine Sache erklären, der andere gibt nur spärliche Daten preis. Der eine erklärt sich und seine Arbeit in einem Satz, der andere in einem autobiographischen, der dritte in einem philo-sophisch orientierten Notat oder durch weitere aphoristische Texte. Das gehört dann wohl zur individuellen Note des Selbst-porträts dazu. (In einzelnen Fällen haben wir aus Einführungen, Vor- oder Nachworten auch Texte Dritter hinzugezogen, um Hinweise zur „Physiognomie“ des jeweiligen Autors zu geben.) Die Angabe der Webseiten haben wir weggelassen; sie sind über den Namen und die Suchmaschinen ohnehin leicht er-reichbar. Und Preise und Auszeichnungen? Auch darauf haben wir verzichtet; die Autorinnen und Autoren, so unsere Hoffnung, mögen sich durch ihre Texte selbst auszeichnen.
Es wird sicherlich den einen Aphoristiker oder die andere Aphoristikerin geben, die oder der in der jüngeren Vergangen-heit zwei eigenständige Aphorismenbücher veröffent¬licht haben und in dieser Anthologie nicht vertreten sind. Dies mag daran liegen, dass diese Verfasser/innen bei uns, den Herausgebern, überhaupt noch nicht in Erscheinung getreten sind. (Als Vorsit-zende des Deutschen Aphorismus-Archivs würden wir uns na-türlich freuen, wenn diese Autoren/Autorinnen den Kontakt zu uns herstellten.) Um einen Einblick in die Aphorismus-Szene im weiteren Sinne zu vermitteln, haben wir im Anhang die Kurz-texte der Gewinner/innen der Aphorismenwettbewerbe der Jah-re 2008 bis 2022 ab¬gedruckt, die bisher vom Deutschen Apho-rismus-Archiv veranstaltet wurden.
Düsseldorf, im April 2023 Friedemann Spicker, Jürgen Wil-bert